Zuhause ist ueberall
es nichts gegeben.
Ich treffe beim Prozess den Österreicher Hermann Langbein, den ich aus Wien kenne. Er war Häftling in Auschwitz und Lagerschreiber. Er hat viel dazu getan, dass dieser Prozess überhaupt stattfinden kann. Jetzt ist er jeden Tag hier und notiert penibel alles, was gesagt wird. Ich frage mich, wie er es aushält, das ganze Grauen nun noch einmal aufgerollt zu sehen. Aber es ist dieser Prozess, weit mehr als seinerzeit der große Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg, der den Deutschen die Schrecken der Naziherrschaft wirklich bewusst macht. Und es ist wichtig, dass es deutsche Richter sind, die hier verhandeln und urteilen.
Wir sind im Umfeld des Sturmjahrs 1968, und eine protestierende Linke, bisher eher marginal, rückt plötzlich ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung, in Deutschland, in Frankreich, in Italien, in den USA, in Lateinamerika, in Polen, in der Tschechoslowakei, in China. Und auch in Österreich. Es ist eine neue Linke, die außerhalb der traditionellen Parteien entstanden ist, aber auf diese zurückwirkt. Der Vietnamkrieg beflügelt sie. Und in Deutschland und Österreich beginnt eine neue Generation zu fragen, was ihre Eltern in der Nazizeit eigentlich getan und nicht getan haben. Kritische Sozialdemokraten sind dabei, kritische Bürgerliche, kritische Christen. Und kritische Kommunisten, die die Dogmen des Stalinismus in Frage stellen. Ich habe in der Arbeiter-Zeitung die Möglichkeit, darüber zu schreiben. Die Zeit des Schweigens und Verschweigens ist vorbei.
In Österreich hat sich die Atmosphäre in den letzten Jahren grundlegend verändert. Daran ist der Wind des Wandels schuld, der durch ganz Europa weht, aber auch die Person von Bruno Kreisky. Nicht, dass er den neuen jungen Linken kritiklos zustimmt. Aber er hört ihnen zu, nimmt sie ernst, redet mit ihnen. Was sie wollen, weiß er nicht zuletzt deshalb recht genau, weil sein Sohn Peter an vorderster Front mit dabei ist. Peter ist auch einer der jungen Wissenschaftler, die Anfang der Siebzigerjahre unter dem Titel »Vietnam und die Sozialisten. Materialien zum Konflikt in Indochina« eine Broschüre herausgeben. »Materialien« ist zu jener Zeit ein Modewort, entstanden in den Seminaren der linken Studenten in Deutschland. Autoren sind unter anderem Helmut Kramer, später Politologieprofessor an der Universität Wien, Erich Schmidt, später Minister, und Josef Hindels, der ewige Linksaußen der SPÖ. Mich haben sie dazugeholt, um das Bändchen zu redigieren und die Einleitung zu schreiben.
Keine leichte Aufgabe. Ständig kommen in den Texten, die ich korrigieren soll, die Wörter »Klassenkampf«, »Imperialismus«, »Faschismus« vor. Vergeblich versuche ich, im Hinblick auf die Leser, die wir erreichen wollen, den Ton ein bisschen zu mildern. Könnt ihr nicht auch einmal Interessenkonflikt schreiben statt Klassenkampf? Aber da komme ich bei meinen Kollegen schön an. Nein, nein, höre ich, das muss Klassenkampf heißen. Wir wollen, dass unsere »Materialien« in den Sektionen der SPÖ verteilt und diskutiert werden und natürlich auch auf dem nächsten Parteitag. Dazu brauchen wir den Segen des Parteivorsitzenden. Dieser hat inzwischen die Nationalratswahlen gewonnen und sitzt als Chef einer SPÖ-Minderheitsregierung im Bundeskanzleramt.
Wir sind alles andere als sicher, dass er unseren Wunsch erfüllen wird. Die öffentliche Meinung ist zu dieser Zeit einhellig auf Seiten der USA gegen die kommunistischen Kämpfer des Vietkong. Die offizielle SPÖ selbstverständlich auch. Nur ein paar Junge halten zu den Vietnamesen. Wir lassen uns von Kreiskys Sekretärin Margit Schmidt einen Termin geben und marschieren ins Kanzleramt, unsere Broschüre unter dem Arm. Die Räume des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers seit Karl Renner haben sich nicht viel verändert, seit dieser hier eingezogen ist. Das Vorzimmer ist noch immer im Handelskammer-Barock seiner Vorgänger gehalten, mit Hunderten kleinen Bundesadlerchen auf den Brokatvorhängen. Das Kanzlerbüro ist noch immer im »Herrenzimmer«-Stil dunkel getäfelt. Ein modernes Bild von Rudolf Hausner, das Kreisky aufgehängt hat, sieht darin ein wenig seltsam aus.
Der Kanzler blättert unser Büchlein durch, liest das Inhaltsverzeichnis, liest die Einleitung, brummt: Hm. »Die Herausgeber hoffen, daß in der SPÖ und in der österreichischen Öffentlichkeit ein Prozeß des Umdenkens beginnt, der zur Überprüfung des eigenen Standpunkts führt«, habe ich
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