Zuhause ist ueberall
allmächtigen Kommunistischen Partei, einen freundlichen Slowaken namens Alexander Dubček. Er ist kein großes Kirchenlicht, aber die Leute mögen ihn, weil er, zum Unterschied zu seinen Vorgängern, redet wie ein normaler Mensch, manchmal stottert und manchmal auch sagt: Das weiß ich nicht. Wichtiger ist, dass die Zensur aufgehoben ist und die Zeitungen plötzlich nicht mehr nur Phrasen zu bieten haben, sondern wirkliche Nachrichten und wirkliche Meinungen.
Wir treffen unseren Freund Antonín »Tonda« Liehm, den Chefredakteur der Literaturzeitschrift Literární Listy . Es ist eine anspruchsvolle Zeitschrift, aber jetzt verkauft sie jede Woche 100 000 Exemplare. Die Menschen sind auf einmal leidenschaftliche Zeitungsleser geworden. Tonda, der die wichtigsten Werke von Jean-Paul Sartre ins Tschechische übersetzt hat, führt uns in den Filmklub, und wir sehen dort die neuen tschechischen Filme, einer besser, witziger, kritischer als der andere. Jetzt kommt eine Talentexplosion, sagt Tonda, wartet nur. Und dabei sind wir erst am Anfang!
Wir treffen den Germanistikprofessor Edvard »Eda« Goldstücker. Er ist, ebenfalls seit kurzem, der Präsident des Schriftstellerverbandes. Ein nachdenklicher, zartgliedriger Mann, Kafkakenner, der ausgezeichnet deutsch spricht. Der Kongress des Schriftstellerverbandes hat vor einigen Monaten das Signal für die neue Meinungsfreiheit gegeben. Die Autoren haben ohne Tabus diskutiert, Gedankenfreiheit, ein Ende von Zensur und Gängelung verlangt. Und sie sind damit durchgekommen. Als wir in Prag sind, hält der Professor an der Karlsuniversität eine Vorlesung über die Verantwortung des Schriftstellers. Er nimmt uns mit. Der Hörsaal ist gesteckt voll, die Studenten sitzen auf den Fensterbrettern, auf dem Boden, zwischen den Bänken. In der Diskussion dreht sich alles darum, dass man jetzt endlich, endlich die Wahrheit hören und die Wahrheit sagen will. Schluss mit der Propaganda! Schluss mit den Lügen!
Wir haben einen Termin bei Ota Šik, dem Wirtschaftsprofessor und Vater des neuen Wirtschaftsprogramms. Das Programm fordert unter anderem Wettbewerb und individuelle Verantwortung der Betriebe. Šik ist Mitglied des Zentralkomitees der KPTsch, er freut sich, in Franz einen gleichgesinnten führenden Genossen einer Bruderpartei aus dem Westen kennenzulernen. Ich bin als Berichterstatterin der Arbeiter-Zeitung dabei. Ich kenne Audienzen bei kommunistischen Größen und bin beeindruckt vom anderen Stil, der hier herrscht. Professor Šik redet offen und ungeschminkt. Ja, die Menschen in den Betrieben haben die ineffiziente Kommandowirtschaft satt und sind bereit für etwas Neues, sagt er, aber um wirklich weiterzukommen, braucht man neue Betriebsleiter. Neue Leute müssen her, überall, sonst haben Reformen keine Chance. Er ist ein wenig pessimistischer als die Kulturleute. Šik lädt uns zum Mittagessen ins Gartenrestaurant Barrandov ein. Er wird erkannt. Ständig kommen Leute an unseren Tisch, wollen dem Hoffnungsträger die Hand geben, sagen: Machen Sie weiter! Lassen Sie sich nicht entmutigen!
Wir sitzen in unserem Hotel beim Frühstück, als einer unserer Prager Freunde hereingestürmt kommt, die Literární Listy in der Hand. Dort und in einigen anderen Zeitungen steht das später berühmt gewordene »Manifest der 2000 Worte«, in dem siebzig bekannte Wissenschaftler und Künstler sich »an alle« wenden. Jetzt komme es darauf an, gemeinsam mit den Reformern unter den Kommunisten den »herrschsüchtigen Egoisten« und »skrupellosen Feiglingen« die Macht aus der Hand zu nehmen, in den Betrieben, in den Bezirken, in den Landkreisen neue, anständige Leute zu wählen. Angeblich gehören die Betriebe uns, den Bürgern, sagen die Autoren des Manifests. Beweisen wir es, nehmen wir die Verfassung beim Wort! Gründen wir Bürgerausschüsse, heißt es darin. Organisieren wir Komitees, fordern wir Rechenschaft! Auf allen Ebenen. Jetzt beginnt der Kampf der »Demokratie gegen die Futtertröge«. Wir sind begeistert. Für Franz ist das alles so etwas wie die Verwirklichung eines Lebenstraums.
Zurück in Wien. Auch hier ist der Prager Frühling in aller Munde. Die Konservativen sind sicher: Die Demokratiebewegung in der Tschechoslowakei kann nicht siegen. Wenn es die Tschechen wirklich ernst meinen mit der Demokratie, und das tun sie offensichtlich, dann werden die Russen das niemals zulassen. Die Linken sind anderer Meinung, sie glauben an den Sieg der Demokraten. Franz sagt, so
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