Zum ersten Mal verliebt
ich für einen Moment, was das wirklich bedeutet, und dann bin ich ganz aufgeregt und stolz auf ihn. Aber dann überkommt es mich wieder wie ein eiskalter Wind.«
»Ich beneide Jem«, sagte Walter mit düsterer Stimme.
»Was, du beneidest Jem? Aber Walter, du - du wirst doch nicht auch gehen wollen?«
»Nein«, sagte Walter und betrachtete gedankenverloren die schöne Landschaft, »nein, ich will nicht gehen. Das ist es ja, Rilla. Ich habe Angst davor. Ich bin ein Feigling.«
»Das bist du nicht!«, rief Rilla. »Jeder andere hätte auch Angst davor. Du könntest schließlich - du könntest getötet werden.«
»Das wäre nicht so schlimm, solange man keine Schmerzen erleiden muss«, murmelte Walter. »Ich glaube nicht, dass es der Tod selbst ist, vor dem ich Angst habe. Ich habe Angst vor den Qualen vorher. Es ist nicht so schlimm, wenn man stirbt, und es ist alles vorbei. Aber mit dem Tod ringen! Rilla, du weißt, ich habe immer schon Angst vor Schmerzen gehabt. Ich kann nichts dafür. Es schüttelt mich, wenn ich daran denke, dass ich womöglich verstümmelt werde - oder dass man mir die Augen aussticht. Rilla, den Gedanken kann ich einfach nicht ertragen! Blind zu sein, nie wieder die Schönheit dieser Welt zu erblicken, den Mondschein über Four Winds, die Sterne, die durch die Tannen funkeln, den Nebel über dem Golf. Ich weiß, ich sollte gehen, ich sollte gerne gehen. Aber ich tue es nicht. Der Gedanke daran ist mir verhasst. Und ich schäme mich, ich schäme mich.«
»Aber, Walter, du könntest doch sowieso nicht gehen!«, sagte Rilla voller Mitleid. Was für eine schreckliche Vorstellung, wenn Walter nun womöglich doch ginge! »Du bist doch nicht kräftig genug.«
»Doch, das bin ich. Ich fühle mich wieder genauso gesund wie früher. Ich könnte jetzt jede Prüfung schaffen, das weiß ich. Alle denken, ich hätte noch nicht genug Kraft und ich wäre im Grunde feige. Ich - ich hätte ein Mädchen werden sollen«, sagte Walter verzweifelt.
»Selbst wenn du genug Kraft hättest, solltest du nicht gehen«, schluchzte Rilla. »Was wäre dann mit Mutter? Dassjem geht, bricht ihr schon das Herz. Wenn ihr nun beide gehen würdet, das würde sie nicht verkraften!«
»Mach dir keine Gedanken! Ich gehe schon nicht. Ich hab dir ja gesagt, dass ich Angst davor habe. Angst. Ich mache mir da nichts vor. Es tut gut, dir das zu gestehen, Rilla. Außer dir würde ich es niemandem sagen. Nan und Di würden mich verachten. Aber mir ist das alles einfach zuwider: die Gräueltaten, die Qualen, all das Leid. Krieg, das ist nicht die Uniform und nicht die Parade. Alles, was ich in alten Geschichten gelesen habe, spukt mir durch den Kopf. Ich liege nachts wach und sehe Dinge, die passiert sind. Ich sehe das Blut und den Schmutz und das Elend. Und ein Bajonettangriff erst! Alles andere könnte ich vielleicht noch so eben ertragen, aber das nicht. Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke. Vor allem, wenn ich mir vorstelle, ich müsste selbst zustechen, ein Bajonett in einen anderen Menschen hineinrammen!« Walter schüttelte sich vor Entsetzen. »Die ganze Zeit muss ich an diese Dinge denken, und mir scheint, dass Jem und Jerry daran überhaupt nicht denken. Sie lachen und reden vom >Hunnen-Abknallen Walter lachte bitter. Es ist schlimm, wenn man sich als Feigling fühlt. Rilla legte die Arme um ihn und schmiegte ihren Kopf an seine Schulter. Sie war so froh, dass er nicht gehen wollte. Dabei hatte sie einen Augenblick Angst gehabt, er würde es sich anders überlegen. Und es tat so gut, wenn Walter ihr seine Sorgen anvertraute. Ihr und nicht Di. Jetzt fühlte sie sich nicht mehr so einsam und überflüssig.
»Verachtest du mich jetzt, Rilla-meine-Rilla?«, fragte Walter ernst. Die Vorstellung, dass Rilla ihn verachtete, tat ihm weh, genauso sehr, als wenn Di ihn verachten würde. Er merkte plötzlich, wie viel ihm an seiner kleinen, lieben Schwester lag, mit ihrem flehenden Blick und ihrem besorgten, mädchenhaften Gesicht.
»Nein, ich verachte dich nicht. Hunderte von Menschen fühlen genauso wie du, Walter. Erinnere dich an Shakespeare, der gesagt hat: >Der Tapfere ist nicht, der keine Angst empfindet/«
»Nein, aber es ist der, >dessen edles Herz die Angst besiegte Ich besiege sie nicht. Da gibt es nichts zu beschönigen, Rilla. Ich bin nun mal ein
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