Zum ersten Mal verliebt
hatte: »Wenn unsere Frauen den Mut verlieren, wie sollen die Männer noch furchtlos sein?«
Ja, das war es. Sie musste tapfer sein, so wie Mutter und wie Nan und Faith, Faith, die mit leuchtenden Augen ausgerufen hatte: »Ach, wenn ich doch nur ein Mann wäre, damit ich auch gehen könnte!« Nur wenn ihre Augen weh taten und ihre Kehle brannte so wie jetzt, dann musste sie sich einfach ein wenig ins Regenbogental zurückziehen, um nachzudenken und sich zu sagen, dass sie nun endgültig kein Kind mehr war. Sie war erwachsen und als erwachsene Frau musste sie wie andere Frauen auch solchen Dingen ins Auge sehen. Aber es war schön, hin und wieder allein zu sein, dort, wo niemand sie sehen konnte und sie nicht Angst zu haben brauchte, dass jemand sie gleich für einen Feigling hielt, wenn ihr ein paar Tränen kamen.
Wie süß der Farn duftete! Wie sanft die großen, federartigen Zweige der Tannen im Wind wehten und über ihr murmelten!
Wie elfenartig die Glöckchen auf den »Drei Liebenden« klangen! Nur ein leises Klingeln hier und da, wenn der Wind auffrischte. Die purpurfarbenen Dunstschleier, wie Weihrauch sahen sie aus, der auf den Altären auf dem Gipfel der Hügel geopfert wurde. Wie sich die Ahornblätter weiß färbten im Wind, bis das Gehölz bedeckt schien von lauter blasssilbernen Blüten! Alles sah genauso aus, wie sie es schon hundertmal erlebt hatte. Und doch hatte die Welt ein anderes Gesicht bekommen.
Wie konnte ich mir nur wünschen, dass mal etwas wirklich Dramatisches passiert!, dachte Rilla. Ach, was gäbe ich jetzt um die gute alte, eintönige und sorglose Zeit! Nie, nie mehr würde ich daran herumnörgeln!
Rillas Welt war einen Tag nach der Party zusammengebrochen. Sie saßen gerade in Ingleside um den Esstisch versammelt und sprachen über den Krieg, als das Telefon läutete. Es war ein Ferngespräch für Jem aus Charlottetown. Als das Gespräch beendet war, hängte er den Hörer ein und drehte sich um, mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen. Anne, Nan und Di wurden blass, noch ehe er ein Wort gesagt hatte. Rillas Herz schlug bis zum Hals und ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»In der Stadt rufen sie die Freiwilligen auf, Vater«, sagte Jem. »Viele haben sich schon anwerben lassen. Heute Abend werde ich auch gehen.«
»0 Jemchen!«, rief Anne mit gebrochener Stimme. So hatte sie ihn schon jahrelang nicht mehr genannt, seit dem Tag, als er es nicht mehr wollte. »Oh, nein, nein, Jemchen, geh nicht!« »Ich muss, Mutter. Das ist doch richtig so, nicht wahr, Vater?«, sagte Jem.
Gilbert stand auf. Auch er war sehr blass und seine Stimme klang heiser. Aber er zögerte nicht mit seiner Antwort. »Ja, Jem, ja. Wenn das dein Wunsch ist, ja.«
Anne verbarg ihr Gesicht. Walter starrte verstimmt auf seinen Teller. Nan und Di klatschten gegenseitig in die Hände. Shirley spielte den Unbeteiligten. Susan saß da wie vom Donner gerührt, den Teller noch halb voll vor sich. Sie aß ihn auch nicht leer, und das kam einer Protestbezeugung gleich, denn Susan hielt es für einen Verstoß gegen die Regeln einer zivilisierten Gesellschaft, wenn jemand etwas auf seinem Teller übrig ließ.
Jem ging wieder zum Telefon. »Ich muss im Pfarrhaus anrufen. Jerry wird auch mitmachen wollen.«
»0 nein!«, schrie Nan und rannte aus dem Zimmer. Di folgte ihr. Rilla versuchte Walter zu trösten, aber der war so geistesabwesend, dass sie nicht an ihn herankam.
»In Ordnung«, sagte Jem am Telefon, so sachlich, als gelte es, die Details für ein Picknick zu besprechen. »Ich habe mit dir gerechnet. Ja, heute Abend. Um sieben. Wir treffen uns am Bahnhof. Bis dann.«
»Liebe Frau Doktor«, sagte Susan und schob ihren Teller beiseite. »Das kann doch nicht wahr sein! Träume ich oder wache ich? Weiß der Junge denn, was er da sagt? Ist es wirklich sein Ernst, dass er sich als Soldat melden will? Kinder wie ihn können die doch unmöglich nehmen! Das ist doch eine Schande! Sie und der Herr Doktor, Sie werden das doch unmöglich zulassen!«
»Wir können ihn nicht daran hindern«, sagte Anne mit erstickter Stimme. »Ach, Gilbert!«
Gilbert kam auf Anne zu und nahm zärtlich ihre Hand. Diesen flehenden, hilflosen Blick in ihren lieben grauen Augen hatte er bisher erst ein einziges Mal gesehen. Sie mussten beide daran denken: Es war Vorjahren in ihrem alten Traumhaus, als Little Joyce gestorben war.
»Willst du ihn wirklich hier behalten, Anne, wo doch alle anderen gehen, wo er es doch für seine Pflicht hält,
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