Zum ersten Mal verliebt
später rief Rilla den Vorsitzenden der patriotischen Vereinigung an und sagte zu. Sie hielt Wort, lispelte prompt einige Male und konnte die Nacht darauf vor verletzter Eitelkeit nicht schlafen. Zwei Tage später las sie in Harbour Head und danach noch in Lowbridge und Overharbour. Bis dahin hatte sie sich damit abgefunden, dass ihr gelegentlich ein Lispeln herausrutschte. Niemand außer ihr selbst schien sich daran zu stören. Und mit welchem Ernst und welcher Eindringlichkeit sie bei der Sache war! Dazu ihre leuchtenden Augen! Mehr als ein junger Mann meldete sich als Soldat, nur weil Rilla niemand anderen als ihn anschaute, wenn sie voller Leidenschaft fragte, ob ein Mann ehrbarer sterben könne als im Kampf für sein Vaterland, oder wenn sie ihren Zuhörern mit hinreißender Heftigkeit versicherte, dass eine Stunde eines ruhmvollen Lebens genauso viel wert sei wie sonst ein ganzes Menschenalter. Selbst der schwerfällige Miller Douglas ließ sich von ihrem Vortrag so anfeuern, dass Mary Vance ihre liebe Not damit hatte, ihn wieder zur Vernunft zu bringen. Sie fragte sich, wie Rilla Blythe dazu kam, die Brüder und Freunde anderer Mädchen so zu bestürmen, wo sie doch selbst angeblich so sehr darunter litt, dass Jem an die Front gegangen war.
Nach ihrem Vortrag in Gien kehrte Rilla müde und frierend nach Hause zurück und war froh, in ihr warmes Nest schlüpfen und sich in ihre Decken kuscheln zu können, wenn auch in Sorge darüber, wie es wohl Jem und Jerry ging. Sie hatte sich gerade aufgewärmt und wollte einschlafen, als Jims plötzlich anfing zu weinen und überhaupt nicht mehr aufhörte zu weinen.
Rilla rollte sich in ihre Bettdecke ein und beschloss ihn weinen zu lassen. Morgan stand zu ihrer Entschuldigung hinter ihr. Schließlich hatte Jims es warm und bequem, und es hörte sich auch nicht so an, als ob ihm etwas weh täte. Sein kleiner Magen war gefüllt, wie es sich gehörte. Wenn man sich jetzt unnötig aufregte, würde man ihn nur verwöhnen. Und das hatte sie nicht vor. Sollte er ruhig weinen, bis er sich wieder beruhigte und einschlief.
Aber Rillas Phantasie ließ ihr keine Ruhe. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre so ein kleines, hilfloses Wesen und mein Vater wäre irgendwo in Frankreich und meine arme Mutter, die sich so große Sorgen um mich gemacht hat, unter der Erde, dachte sie. Wenn ich mir vorstelle, ich würde in einem Körbchen liegen, in einem großen, stockfinsteren Zimmer, und ich könnte weit und breit niemanden sehen. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte niemanden, der mich liebt. Wie soll mich auch ein Vater lieben, der mich nie gesehen hat und von dem nie ein Brief kommt. Würde ich da nicht auch weinen? Würde ich mich da nicht so entsetzlich einsam und verlassen fühlen und nicht solche Angst haben, dass ich einfach weinen muss? Rilla sprang aus dem Bett. Sie hob Jims aus seinem Körbchen und nahm ihn mit in ihr Bett. Wie kalt seine Hände waren! Armer kleiner Kerl! Aber er hörte sofort auf zu schreien. Und dann, als sie ihn im Dunkeln an sich schmiegte, da lachte Jims auf einmal! Und wie er lachte! Er gluckste nur so vor Vergnügen!
»Ach, du lieber Kleiner!«, rief Rilla aus. »Freust du dich denn so, dass du nicht alleine bist in dem riesengroßen schwarzen Zimmer?« Rilla war so glücklich, dass sie ihn küsste. Sie küsste sein seidiges, duftendes Haar, seine Pausbacken und seine kleinen kalten Hände. Sie liebkoste ihn und drückte ihn fest an sich, so wie sie es früher mit ihren Kätzchen getan hatte. Sie war plötzlich ganz außer sich vor Freude, Sehnsucht und Rührung. Es war ein völlig neues Gefühl für sie.
Nach ein paar Minuten schliefjims tief und fest. Und während Rilla seinem sanften, gleichmäßigen Atem lauschte und seinen kleinen warmen Körper spürte, da wurde ihr auf einmal klar, dass sie ihr Kriegsbaby liebte. Endlich!
Was für ein kleiner Schatz er ist!, ging es ihr noch durch den Kopf, bevor sie selbst einschlief.
Im Februar waren Jem und Jerry und Robert Grant in den Schützengräben und die Bewohner von Ingleside mussten noch mehr Angst ausstehen als bisher. Im März tauchten zum ersten Mal die Listen der Kriegsopfer in den Zeitungen auf, und alles zuckte zusammen, sobald das Telefon klingelte. Es hätte ja der Bahnhofsvorsteher sein können mit der Nachrieht, dass ein Telegramm aus Übersee gekommen sei. Und morgens wachten alle mit der bangen Frage auf, was der Tag ihnen wohl diesmal bescheren werde.
Dabei habe ich mich früher immer auf
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