Zum ersten Mal verliebt
gibt mir das ungeheuer viel Kraft und Mut.
Vater, sag Rilla, dass ich mich freue, dass ihr Kriegsbaby sich so gut entwickelt, und sag Susan, dass ich tapfer gegen die Hunnen kämpfe und gegen die Läuse.«
»Was für Läuse meint er denn, liebe Frau Doktor?«, fragte Susan ahnungslos.
»So ist das eben in den Schützengräben, Susan«, klärte Anne sie auf.
Susan schüttelte nur den Kopf und machte sich mit einem Grinsen daran, das Paket, das sie schon für Jem zusammengeschnürt hatte, noch mal zu öffnen, um einen Kamm mit besonders eng stehenden Zähnen darin verschwinden zu lassen.
Bange Tage
»Wie kann es in solchen Schreckenszeiten nur Frühling werden?«, schrieb Rilla in ihr Tagebuch. »Wenn die Sonne scheint und an den Weiden unten am Bach die flaumigen gelben Kätzchen hervorkommen und wenn es im Garten so schön anfängt zu blühen, dann kann ich mir kaum vorstellen, dass zur selben Zeit in Flandern so entsetzliche Dinge passieren. Aber sie passieren!
Die letzte Woche ist für uns alle furchtbar gewesen, seit wir von den Kämpfen um Ypres und den Schlachten von Langemarck und St. Julien erfahren haben. Unsere kanadischen Jungen haben sich wunderbar geschlagen. General French hat gesagt, sie hätten >die Situation gerettet<, als die Deutschen beinahe durchgebrochen wären. Aber ich fühle weder Stolz noch Begeisterung, ich habe nur Angst umjem und Jerry und Mr Grant. Jeden Tag erscheinen die Opferlisten in den Zeitungen. Es ist schrecklich, wie viele es sind! Ich bringe es nicht über mich, sie zu lesen, aus Angst, ich könnte Jems Namen darunter finden. Es ist tatsächlich schon vorgekommen, dass Leute die Namen ihrer Söhne in den Listen gefunden haben, bevor das amtliche Telegramm kam. Ich konnte auch ein oder zwei Tage lang nicht mehr ans Telefon gehen, weil ich den schrecklichen Augenblick zwischen meinem >Hallo, wer ist dort?< und der Antwort nicht ertragen konnte. Er kam mir so unendlich lang vor, einfach weil ich Angst hatte, am anderen Ende der Leitung zu hören: >Ein Telegramm für Dr. Blythe ist gekommen/ Aber als ich mich dann eine Weile davor gedrückt hatte, den Flörer abzunehmen, da schämte ich mich, das alles Mutter und Susan zu überlassen, und jetzt zwinge ich mich dazu, ans Telefon zu gehen. Aber das macht es nicht leichter. Gertrude unterrichtet und liest Aufsätze und bereitet Prüfungsaufgaben vor wie immer, aber ich weiß, dass sie in Gedanken ständig in Flandern ist. Ihr Blick verfolgt mich richtig.
Jetzt ist auch Kenneth in Uniform. Er ist zum Leutnant ernannt worden und wird voraussichtlich im Sommer nach Übersee gehen, nach dem, was er mir geschrieben hat. Sehr viel mehr stand nicht in seinem Brief. Er scheint wohl an nichts anderes zu denken, als nach Übersee zu gehen. Ich werde ihn vorher nicht mehr sehen. Womöglich sehe ich ihn überhaupt nie mehr. Manchmal frage ich mich, ob denn der Abend damals in Four Winds ein Traum gewesen ist. Das könnte gut sein. Es ist, als wäre es in einem anderen Leben vor vielen, vielen Jahren geschehen, und alle haben es längst wieder vergessen, nur ich nicht.
Walter, Nan und Di sind gestern Abend aus Redmond gekommen. Als Walter aus dem Zug stieg, ist ihm Monday gleich entgegengelaufen. Er war außer sich vor Freude. Wahrscheinlich hat er gedacht, Jem wäre auch dabei. Nachdem Walter ihn begrüßt hatte, beachtete Monday ihn nicht weiter, sondern blieb stehen, wedelte aufgeregt mit dem Schwanz und schaute erwartungsvoll an Walter vorbei zu den Leuten, die nach ihm ausstiegen. Sein Blick schnürte mir die Kehle zu, denn ich musste unwillkürlich daran denken, dass Jem womöglich nie mehr aus dem Zug steigen würde. Dann, als alle Leute ausgestiegen waren, schaute Monday an Walter hinauf und leckte ihm die Hand, als ob er sagen wollte: >Ich weiß, es ist nicht deine Schuld, dass er nicht gekommen ist. Sei mir nicht böse, dass ich enttäuscht bin.< Dann trottete er schwanzwedelnd in seine Hütte zurück.
Wir haben versucht ihn mit uns nach Hause zu locken. Di kniete zu ihm nieder, gab ihm einen Kuss zwischen die Augen und sagte: »Monday, alter Bursche, willst du uns nicht wenigstens für heute Abend heimbegleiten?< Aber Monday sagte -jawohl, das sagte er! -: >Tut mir Leid, aber ich kann nicht. Ich muss hier auf Jem warten und um acht kommt der nächste Zug.<
Ich freue mich, dass Walter wieder da ist, auch wenn er ziemlich still und traurig ist, so wie an Weihnachten. Aber ich werde ihn einfach ganz besonders lieb haben und ihn
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