Zum Glück Pauline - Roman
ebenfalls innezuhalten. Wenn sie sich jetzt umdrehte und mich sehen könnte, wie ich wie erstarrt hinter ihr stand, wäre jegliche Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft zerstört. Dochgenau das geschah. Sie drehte sich um und wir standen uns gegenüber. Sie sah mir tief in die Augen. Und sagte keinen Ton. Bestimmt dachte sie, der Typ hat einen Knall. Es war eine eigenartige Szene. Reglos inmitten einer tosenden Menge. Wie eine zeitgenössische Skulptur, deren Sinn sich niemandem erschließt. Die Zeit stand still, und wir bewegten uns nicht von der Stelle. Das geschäftige Treiben der Stadt rückte immer weiter in den Hintergrund. Die Welt gehörte uns allein.
* Noch so ein schöner Ausdruck: reinen Herzens sein. Das heißt, auf dem Herzen liegen ganz viele Zweifel und Ungewissheiten, die man beiseiteschaffen muss. Danach darf kein Hauch von Reue zurückbleiben.
FÜNFTER TEIL
1
Einige Wochen vergingen. Selten hatte ich einen solchen Tatendrang verspürt. Ich verbrachte viel Zeit mit der Renovierung. Da das Hotel während der Umbauarbeiten geschlossen blieb, musste alles sehr schnell gehen. Zu meiner Unterstützung engagierte ich zwei Polen, die mir bereits wohl bekannt waren. Ich richtete mich in meiner neuen Wohnung im obersten Stockwerk ein, die aus zwei ehemaligen Gästezimmern bestand. So unter den Dächern von Paris kam ich mir fast vor wie ein Student. Jeden Abend beobachtete ich das Schauspiel, wie sich langsam die Nacht über die Stadt senkte. Ich nahm mir Zeit für solche Momente. Nur wenige Städte können es mit der Schönheit der Natur aufnehmen. Paris konnte. Alle wollen ständig zauberhafte Dinge erschaffen, die Poesie, das Kino, die Malerei, die Musik, dabei ist doch alles schon da. Das Verhältnis zur eigenen Stadt verändert sich je nach Altersstufe und je nachdem, was man gerade durchmacht. Ich hatte mein ganzes Leben in Paris oder in der Umgebung von Paris gelebt, und doch entdeckte ich die Stadt vollkommen neu. Sie fügte sich vor meinen Augen irgendwie neu zusammen, ein irrsinniges Spektakel, und ich liebte sie wie nie zuvor.
Das Erscheinen von Édouard bremste den Überschwang meiner Gefühle. Er sah aus wie eine Karikatur der Wirklichkeit, die sich in einen Traum einschlich. * Offensichtlich gab es irgendwelche Schwierigkeiten. Dennoch bemühte er sich in den ersten Minuten, eine gute Figur abzugeben, begeisterte sich müde für mein neues Zuhause und lobte den ein oder anderen Einrichtungsgegenstand, ohne ihn überhaupt anzusehen. Ich schenkte ihm ein Glas Rotwein ein, das er in einem Zug austrank. Er hatte nicht einmal auf mich gewartet. Das passte doch alles nicht zusammen: Sonst ließ er keine Gelegenheit aus anzustoßen. Er hätte so etwas ausrufen müssen wie: «Auf dein neues Zuhause!» Oder vielleicht sogar ein bisschen euphorischer: «Auf dein neues Leben!» Aber nichts dergleichen. Er stürzte den Wein hinunter und hielt mir erneut das Glas hin. In der Trinkersprache, in der Gebärden mehr sagen als Worte, hieß das so viel wie: «Mehr.» Er genehmigte sich zahlreiche Gläser, sodass ich nicht umhin konnte zu fragen:
«Hast du Probleme in der Arbeit?»
«…»
Er antwortete nicht. Im Rückblick denke ich mir, dass ich auch einfach «Hast du Probleme?» hätte sagen können. Doch ich hatte gleich den möglichen Herd seines Kummers so benannt, als ob Édouards Probleme nur mit der Arbeit zusammenhängen könnten. Es gibt Leute, deren Gefühlsund Familienleben wie ein unverrückbarer Fels erscheint.Während man selbst mit allerlei unvorhergesehenen Ereignissen fertig werden muss und tausend kleine Dramen durchsteht, kann sie nie etwas aus der Bahn werfen. Sie rauschen auf einer Art Gefühlsautobahn dahin. Bis zuletzt hatte ich auch Édouard in diese Kategorie eingeordnet. Doch damit war es nun vorbei, da er in einen tiefen Sessel sank, den ich kürzlich auf dem Trödel erstanden hatte.
«Aber was ist denn los mit dir?»
«…»
«Du willst doch irgendwas sagen. Ich sehe doch, dass irgendwas nicht stimmt mit dir. So hab ich dich ja noch nie erlebt.»
«Es ist wegen Sylvie.»
«Was ist mit Sylvie?»
«Sie … hat mich verlassen.»
«…»
Seit dem legendären sexuellen Übergriff hatte ich sie nicht mehr gesehen. Ich hatte es für besser gehalten, mich ein wenig zurückzuziehen. Dass ich mich jetzt in die Arbeit gestürzt hatte, war eine hervorragende Ausrede gewesen. Mit Édouard hatte ich öfter mal telefoniert, es dabei aber nicht gewagt, mich
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