Zum Glück Pauline - Roman
Reden tut mir gut … ich kann gar nicht mehr aufhören … ich glaube, ich muss alles rauslassen … dann geht’s mir bestimmt wieder besser … alles rauslassen … ah, das tut gut … das Reden … das befreit … Sie machen hier wirklich einen guten Job … Sie sitzen da mit ihrem Notizblock … und helfen den Leuten, ohne dass Sie groß was machen würden … das ist toll … man braucht im Prinzip nur zwei Ohren … das heißt … in Wirklichkeit ist es wahrscheinlich schon etwas komplexer … Zuhören ist eine Fähigkeit, die man erst mal erwerben muss … dazu braucht es ein langes Studium … aber dann hat man einen ehrbaren Beruf … einen faszinierenden Beruf sogar … und Ihr Vater hat keinen Grund, ständig an Ihnen rumzunörgeln … von meinem Vater fang ich lieber erst gar nicht an … also er fällt mir ständig in den Rücken … ah … war das jetzt ein Freud’scher Versprecher?… das müssen Sie aufschreiben! Das heißt … Freud’scher Versprecher ist wohl nicht ganz das richtige Wort … aber es gibt sicherlich einen Begriff dafür …»
«Um die Theorie brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Fahren Sie fort.»
«Okay … also, es muss einen Begriff für solche Gedankenverbindungen geben … aber ich glaube, es gehört nicht viel dazu, da eine Verbindung herzustellen … die Beziehung zu meinem Vater ist eine große Belastung für mich, Sie machen sich kein Bild, wie mich das belastet … ich sage immer, dass mir das alles egal ist … dass es mir nichts ausmacht, wenn er kein gutes Haar an mir lässt … aber das stimmt nicht … und das ist auch gar nicht mehr aus der Welt zu schaffen … ich habe nie irgendwelche Zuwendung von ihm erfahren … und renne immer der Liebe meines Vaters hinterher … manchmal heuchelt er ein bisschen Interesse an mir und spielt den lieben Vater … aber das haut irgendwie nicht hin … er war einfach jahrzehntelang total gefühlskalt zu mir, das kann er jetzt nicht schnell wieder hinbiegen … ich weiß schon, was Sie jetzt sagen werden … ich kenne ein paar Grundbegriffe der Psychoanalyse … Sie werden sagen, er reproduziert ein gelerntes Verhaltensmuster … und es stimmt auch, dass er als Kind selber keine Zuwendung bekommen hat … aber ist das ein Grund? Ich bin zu meinen Kindern ganz anders … ich umarme sie, sage ihnen, dass sie super sind, dass ich sie liebe … das ist doch nicht so schwer, oder? Das ist doch etwas, das einfach so in einem drinsteckt, oder? Die Liebe zu den eigenen Kindern. Diese grenzenlose Liebe zu den eigenen Kindern. Ich weißnicht, wie das ist, wenn man diese Liebe nicht spürt … und deswegen könnte ich manchmal heulen wegen meinem Vater … aber mit meiner Mutter ist es nicht viel besser … meine Eltern geben mir einfach keine Liebe … sie sind bestenfalls höflich zu mir … und das ist eben nicht genug … es gibt so viele unausgesprochene Dinge zwischen uns, die mich belasten … ich finde, Eltern müssen eigentlich überschwappen vor Liebe … aber ich ersticke fast an der Art Liebe meiner Eltern … ja, so sehe ich das … dafür schwappt bei mir die Liebe umso mehr über … das heißt, es ist manchmal ein bisschen zuviel davon … und dann bekomme ich Angstzustände … wenn ich zum Beispiel an meinen Sohn denke, der gerade in New York ist, ich meine, ich bin natürlich stolz auf ihn … aber wenn ich dran denke, zittere ich am ganzen Leib … weil ich die ganze Zeit denke, hoffentlich passiert ihm nichts … ich bin nicht besitzergreifend, wirklich nicht … aber ich liebe ihn … und deswegen mache ich mir Sorgen … aber da haben Sie schon recht, da gibt es einen Knoten, den ich lösen muss … vielleicht kommt das alles ja auch daher, keine Ahnung … aber seitdem er in New York ist … kommt es mir so vor, als hätte ich niemanden mehr … das ist alles so schnell gegangen … mein Körper verarbeitet schleichende Veränderungen besser als überstürzte Entscheidungen … ja, vielleicht ist das die Ursache meines Leids: mein Körper reagiert auf die Trennung von meinem Sohn … ich meine, die Kinder sollen ja ihr eigenes Leben haben … aber deswegen muss doch nicht gleich ein ganzer Ozean zwischen uns liegen … wenn ich ihn jetzt sehen will, dann geht das nicht … es kommt mir so vor, als hätte ich ihngestern noch von der Schule abgeholt … als wäre er gestern noch auf meinen Schultern herumgeklettert … aber mir war das Glück, solche Momente erleben zu dürfen, überhaupt nicht bewusst … das ist
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