Zum Glück Pauline - Roman
mein Vater gab mir nie die Gelegenheit, den Knoten in mir zu lösen.
«Ja … ja, ist besser geworden, danke.»
«Ah, das hört man gern.»
«Ich hab in der Arbeit einen Kollegen halbtot geschlagen, und seitdem geht’s mir echt besser.»
«…»
«Nur zu dumm, dass ich deswegen rausgeschmissen worden bin.»
Meine Mutter sank auf einen Stuhl, der glücklicherweise in dem Augenblick genau hinter ihr stand.
«Aber du kannst deiner Mutter doch nicht einfach solcheSachen hinknallen, du bist wohl nicht ganz bei Trost! Schau mal, wie sie jetzt aussieht!», regte mein Vater sich auf.
«Aha, scherst du dich jetzt darum, wie es anderen Leuten geht? Das ist ja was ganz Neues.»
«Was redest du denn da!?»
«Weil du immer nur an dich denkst. Du scherst dich einen Dreck um die anderen. Es interessiert dich überhaupt nicht, was andere Leute denken. Dich interessiert nur dein eigenes armseliges Dasein … und sonst nichts!»
«Jetzt hör doch auf damit!», flehte meine Mutter.
Mein Vater schwieg und sah mir fest in die Augen. Es war nicht zu erkennen, ob er zutiefst schockiert war oder es irgendwie begrüßte, dass ich mich mal so richtig austobte. Nein, es war nicht zu erkennen, aber da war etwas in seinem Blick, das mich irritierte. Er machte einen fast glücklichen Eindruck. Dieses irritierende Etwas lag auf dem Grunde seines Blicks, aber vielleicht deutete ich den Ausdruck, den ich noch nie an ihm gesehen hatte und der mich für einen Moment aus dem Konzept brachte, auch falsch. Er fasste sich:
«Du hast wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank, so kannst du doch nicht mit uns reden! Was haben wir dir denn getan?»
«Was ihr mir getan habt? Das fragst du dich? Du stellst dich wohl nie infrage! Was ihr mir getan habt … was du mir angetan hast … ach, nichts … gar nichts … anscheinend merkst du es nicht mal …»
«Wovon redest du überhaupt? Du hast den Verstand verloren, das ist die einzige Erklärung, die ich habe.»
«Ich rede davon, dass du immer alles an mir in den Dreck ziehst. Du hast in deinem ganzen Leben noch nie ein nettes Wort zu mir gesagt. Noch nie!»
«…»
«Na los! Versuch’s mal! Sag mal was Nettes.»
«…»
«Los jetzt!»
«…»
«…»
«Dein neuer Haarschnitt steht dir ganz gut», brachte er schließlich hervor.
Ich ging ein paar Mal auf und ab und murmelte vor mich hin: «Mein Haarschnitt steht mir ganz gut … mein Haarschnitt steht mir also gut …» Ich spürte, dass mich eine gewaltige Kraft durchströmte. Endlich würde ich mich von allem befreien, mein Rücken würde es mir bestimmt danken. Nach einer Weile kam ich vor meiner Mutter zum Stehen. Jetzt war sie an der Reihe:
«Und du, du sagst nie was dazu. Du bist so ausgedörrt wie der US-Bundesstaat Arizona. Ein US-Bundesstaat, das ist doch keine Mutter.»
«Jetzt reicht’s aber!», brüllte mein Vater. «Wenn dir so viel an uns nicht passt, dann geh doch! Glaubst du, uns passt recht viel an dir … hä? Hast du darüber schon mal nachgedacht? Aber wir veranstalten wenigstens nicht so einen Zirkus deswegen.»
«Ich veranstalte keinen Zirkus. Ich sage bloß, was ich schon immer sagen wollte. Ihr liebt mich einfach nicht. Vorallen Dingen du liebst mich nicht. Warum gibst du es nicht einfach zu? Dann ist es wenigstens mal gesagt.
«…»
«Na los!»
«Nein … das stimmt nicht … so kann man das nicht sagen …», stammelte mein Vater.
«Dein Vater liebt dich …», sagte meine Mutter und stand auf. «Du machst anscheinend gerade eine schwierige Phase durch. Du hast Rückenschmerzen und Probleme in der Arbeit … aber bilde dir nicht ein, dass das unsere Schuld ist.»
«Jetzt hör auf zu beschwichtigen. Das machst du nämlich immer. Du versuchst, die Wogen zu glätten. Aber so läuft das heute nicht …»
Meine Mutter hatte meinen Vater in der Rolle des Deeskalationskünstlers abgelöst. Aber so leicht ließ ich mich nicht übertölpeln, nicht heute, ich musste noch ein bisschen durchhalten, ich hatte ja nicht den Verstand verloren, und ich war auch kein Gewalttäter, sie liebten mich nicht, sagte ich mir immer wieder vor, sie liebten mich nicht, nein, sonst würde ich mich ja nicht so aufführen. Sie schauten mich beide mit großen Augen an, wie zwei geprügelte Hunde. Sie wirkten ernsthaft getroffen von dem, was ich ihnen an den Kopf geworfen hatte. Ich kam mir plötzlich vor wie der Böse.
Das war doch der Gipfel: Da hält man jahrelang zurück, was man auf dem Herzen hat, und an dem Tag, an dem einem
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