Zum Glück Pauline - Roman
endlich der Kragen platzt, steht man als dasgroße Arschloch da. Ich wollte mich fast schon entschuldigen. Mein Vater meinte:
«Und du, stellst du dich manchmal infrage?»
«…»
«Glaubst du, für uns ist es leicht, einen Sohn wie dich zu haben? Du beklagst dich, dass ich alles in den Dreck ziehe, aber schau dich doch mal an: Du machst immer ein Gesicht, als wäre gerade eine Katastrophe passiert, als hätte man dir was Schlimmes angetan. Mich wundert überhaupt nicht, dass du Rückenschmerzen hast. Dieses Gekrümmte, das passt zu dir … und das gefällt dir auch … so hast du nämlich Grund, dich bemitleiden zu lassen … genau das ist es, was du willst: dass man dich bemitleidet.»
«…»
«Und dann willst du noch bewundert werden, aber du hast bisher eben nichts Bewundernswertes zustande gebracht!»
Ich war platt. Ich hatte geglaubt, eine riesige Last würde von meinen Schultern fallen, wenn ich meinen Eltern die Meinung geigen würde, aber nun drohte die Situation zu kippen. Und wieder einmal war alles mein Fehler. Wer nicht geliebt wurde, war selber schuld. Aber ich versuchte, nicht lockerzulassen. Man muss seine Kinder bedingungslos lieben, oder? Erst durch die Liebe der Eltern gelangen die Kinder zu voller Blüte.
«Du hast recht», sagte ich schließlich. «Ich bin ein erbärmlicher Waschlappen. Ihr verschwendet nur eure Zeit mit mir. Auf Nimmerwiedersehen.»
«Oh, was für ein Drama er macht … das ist wieder mal typisch!», schäumte mein Vater. «Du sagst immer, du stehstnicht so gern im Mittelpunkt, aber das stimmt überhaupt nicht. Du stehst total gern im Mittelpunkt. Du könntest stundenlang über dich und deinen Rücken und unsere Beziehung reden! Du wärst imstande, einen ganzen Roman drüber zu schreiben!»
«…»
«Genau, einen fetten Roman!»
Meine Mutter kam langsam auf mich zu und sagte leise: «Sag nicht solche Sachen … wie auf Nimmerwiedersehen …» Es schien sie wirklich getroffen zu haben, was ich alles gesagt hatte. Ihr Gang war nicht gerade; sie musste aufpassen, dass sie nicht ins Stolpern kam. Ich musste mich auch mal setzen, ich nahm den freigewordenen Stuhl. Meine Eltern standen beide um mich herum. Ich war am Ende meiner Kräfte. Was sollte ich noch sagen? War das alles nur ein Traum? War alles meine Schuld? Ich hatte keine Ahnung. Nach einer Weile brachte ich hervor:
«Ich werde mich scheiden lassen.»
«…»
«Wir haben das jetzt beschlossen. Ich wohne vorübergehend bei Édouard.»
«Aber wieso denn bei Édouard? Hättest du doch uns angerufen, du hättest hierherkommen können … nach Hause …», sagte meine Mutter sanft. Sie wirkte kein bisschen überrascht. Meine Eltern hatten die Katastrophe anscheinend schon vorhergesehen. Mein Untergang war die natürlichste Sache der Welt, so absehbar wie das Hereinbrechen der Nacht, wenn der Tag zu Ende geht.
«Ja, wärst du doch zu uns gekommen», bekräftigte sie.
«Auf die Idee bin ich gar nicht gekommen …»
«Ja, du hättest zu uns kommen können», meinte auch mein Vater. «Vielleicht ist es ganz normal, auf der Familie herumzuhacken, wenn es einem schlecht geht … ich gebe ja gerne zu, dass nicht alles rund läuft … aber die Familie ist und bleibt eben die Familie … und wir halten zusammen …»
«Ja, wir halten zusammen …», wiederholte meine Mutter.
Da standen sie und wollten mich in meinem Kummer trösten. Ich war kein erwachsener Mann mehr. Ich war wieder ein Kind, das mitten in der Nacht aus einem Alptraum erwacht. Um mir mein Weltbild vollends zu rauben, sagte meine Mutter noch: «Sag nicht, dass du uns nicht mehr sehen willst … wir lieben dich.»
Ich hatte richtig gehört. Meine Mutter hatte gesagt: «Wir lieben dich.» Ich hatte die beiden heftig beschimpft, ihnen meine Wut und Verachtung ins Gesicht geschrien, und das Ganze endete: mit einer Liebeserklärung. Das hatte es noch nie gegeben. Ich konnte mich nicht recht entscheiden, ob sie tatsächlich Angst hatten, mich zu verlieren, oder ob hinter diesen plötzlichen Gefühlsregungen nicht doch Berechnung steckte. Wenn sie mich wirklich liebten, stellte diese Liebe eine Belastung für mich dar. Das fiel ihnen jetzt nach all den Jahren ein. Wie konnte ich das glauben? Die ganze Sache brachte mich mehr durcheinander als gedacht. Ich wollte den endgültigen und totalen Bruch, und sie hielten michzurück. Die Familie ist und bleibt die Familie, meinten sie. Wir halten zusammen, setzten sie hinzu. Ihre Reaktion widersprach jeglicher
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