Zum Glück Pauline - Roman
anscheinend nur in meiner Fantasie. Ich hielt weiter nach meinem Retter Ausschau, vergeblich. Meine Eltern wohnten in einer Gegend, in der hauptsächlich Einfamilienhäuser standen, das heißt in einer Gegend, die den sozialen Gnadenstoß bedeutete. Mein Zeitgefühl setzte aus, unzählige Gedanken schossen mir durch den Kopf, ich fühlte mich wie Michel Piccoli in
Die Dinge des Lebens
in dem Moment, als der Unfall passiert. Ich brabbelte unverständliches Zeugs vor mich hin, vor mir erschien eine Lichtquelle. Ich befand mich in einer Art Tunnel des Lichts. Ein gleißendes Hellgelb, in warmes Meerblau getaucht. Dann wurde die Quelle ausgeknipst und ich brach unter der Last der Schmerzen zusammen. Mein Rückenhatte seine Lauerstellung aufgegeben und das Kommando über sämtliche Körperfunktionen übernommen. Ich sank ohnmächtig nieder.
Als ich kurze Zeit später die Augen aufschlug, lag ich in einem Krankenwagen. Ich war an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Nicht das Tohuwabohu, das sich davor abgespielt haben musste, sondern das gleichmäßige Rauschen der Pumpe rief mich wieder zu Bewusstsein. Ein junger Mann strahlte mich an:
«Das kommt alles wieder in Ordnung. Keine Sorge», versicherte er.
«…»
«Sie haben das Bewusstsein verloren. Wir bringen Sie ins nächstgelegene Krankenhaus.»
«…»
«Können Sie mir Ihren Namen nennen?»
«…»
«Erinnern Sie sich noch an Ihren Namen?»
«Mir tut der Rücken total weh …», stöhnte ich.
Das Gesicht des jungen Mannes wirkte wirklich beruhigend auf mich. Ich hielt mich an diesem Gesicht fest, so wie man sich am Lächeln einer Stewardess festhält, wenn das Flugzeug in Turbulenzen gerät. Man redet sich leicht ein, dass Gedeih und Verderb vom Gesichtsausdruck dieser Menschen abhängen. Wenn der junge Mann lächelte, hieß das, dass ich heil davonkommen würde. Er war bestimmt froh zu sehen, dass ich wieder unter den Lebenden weilte. Froh und vor allen Dingen erleichtert. Als wir das Krankenhauserreichten, legte er mir zum Abschied die Hand auf die Schulter. Er überließ mich den anderen. Er war nur für den Transport zuständig. Es kam mir ungeheuerlich vor, dass ich diesen Zeugen meiner Wiederauferstehung nie wiedersehen würde. Er hatte einen ganz entscheidenden Augenblick meines Lebens aus nächster Nähe miterlebt, und nun zog er schon weiter, um einen ebenso entscheidenden Augenblick mit dem nächsten Fremden zu verbringen. Ich hatte ihm meinen Namen nicht nennen können, aber ich war mir auch in dem Moment, als ich wieder zu mir kam, nicht sicher gewesen. Wer aus einer Ohnmacht erwacht, ist erst einmal ein anonymes Wesen. Er hatte mir seinen Namen aber auch nicht gesagt. Doch sein Gesicht sollte mir noch lange im Kopf herumspuken.
Einige Stunden später lag ich in einem Bett und teilte das Zimmer mit einem älteren Herrn, der sich so gut wie nicht bewegte. Selbst die Ankunft des neuen Zimmergenossen rief nicht die leiseste Regung bei ihm hervor. Er hatte einen sagenhaften Bart, schwarz, kräftig, flauschig und gepflegt, der im Widerspruch zu seinem sonstigen Outfit stand. Ich versuchte mehrmals, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, ohne Erfolg. Es war nach dem jungen Mann im Krankenwagen das zweite Mal heute, dass eine Nebenfigur in Erscheinung trat. Seine bloße Gegenwart würde ihm wie allen anderen, die mir an diesem Tag begegnen sollten, einen Platz in meinem Gedächtnis sichern. Die Bilder mancher Tage ragen immer noch steil heraus, auch wenn es mit der Erinnerung ansonsten längst bergab gegangen ist. Ich sog jedes Detail,jede Kleinigkeit, das Bild jedes Passanten auf dem Flur gierig in mich auf. Insofern entscheidet tatsächlich unser Gedächtnis über das, was wichtig ist und was nicht. Und natürlich würde ich auch den Arzt nie vergessen, der bald darauf das Zimmer betrat:
«Wie fühlen Sie sich?»
«Geht schon.»
«Ist Ihnen so was schon mal passiert?»
«Nein, das ist das erste Mal. Ich weiß gar nicht, was genau passiert ist. Ich hab so schlimme Schmerzen in letzter Zeit …»
«Wenn starke Schmerzen länger anhalten, kann das dazu führen, dass man plötzlich das Bewusstsein verliert. Irgendwas muss das Fass zum Überlaufen gebracht haben …»
«…»
«Ich habe mir Ihre Krankenakte schicken lassen … ich habe die Röntgenaufnahmen gesehen, die kürzlich gemacht wurden, und ich habe die Ergebnisse Ihrer Kernspinuntersuchung vorliegen …»
«Und?»
«Daraus geht hervor, dass Sie nichts haben.»
«Aber das gibt’s doch gar
Weitere Kostenlose Bücher