Zum Heiraten verfuehrt
schneebedeckte Gipfel in der Sonne glitzerten, mit Wildblumen an den Hängen. Diese Naturparadiese korrespondierten mit Fotos von einer modernen Frachthafenanlage, Fischereihäfen und kleinen Städten mit weiß verputzten Häusern und schattigen Gassen. Es war schier unmöglich, sich von der Schönheit der Insel nicht einfangen zu lassen, gleichzeitig aber wurde Ruby bewusst, wie anders und fremdartig das Leben dort war, verglichen mit dem Leben in England. Tat sie wirklich das Richtige? Sie wusste weder etwas über Sanders Familie noch darüber, was für ein Leben er führte. Sobald sie auf der Insel war, würde sie ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein. Aber wenn sie jetzt trotzig reagierte und einen Rückzieher machte, würde er alles daran setzen, ihr die Zwillinge wegzunehmen, davon war sie überzeugt. Deshalb war es so wahrscheinlich wirklich am besten.
Wieder einmal ging ihr das Herz über vor Liebe zu ihren Kindern. Es gab nichts Wichtigeres für Ruby als das Wohl der Zwillinge. Solange es den Zwillingen gut ging, war sie glücklich. Und dass es ihnen gut ging, war wichtiger als alles andere. Vor allem war es wichtiger als das unerwünschte und demütigende Verlangen, das Sander in ihr hervorrufen konnte. Ihr Mund wurde trocken. Mit siebzehn mochte es noch entschuldbar gewesen sein, dass sie seiner sexuellen Verführungskraft erlegen war, aber heute? Auch wenn sich ihre sexuelle Erfahrung noch immer auf das beschränkte, was sie mit Sander geteilt hatte. Während er seit der Nacht mit ihr mit Sicherheit unzählige Abenteuer gehabt hatte.
Noch während sie auf den Monitor schaute, konnte sie plötzlich der Versuchung nicht widerstehen, seinen Namen in die Suchmaschine einzugeben … nicht, weil sie neugierig war – auf gar keinen Fall. Aber sie musste schließlich das Wohl ihrer Söhne im Auge behalten und ihre Entscheidung sehr genau abwägen.
Sie fand heraus, dass Sanders Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren. Da war Sander achtzehn gewesen. Diese Erkenntnis elektrisierte sie. Hatte das etwas zu bedeuten? Sie hatten beide in jungen Jahren ihre Eltern verloren, sie waren fast im selben Alter gewesen. Wenn sie das bei ihrer ersten Begegnung schon gewusst hätte … was wäre dann anders gewesen?
Gar nichts.
Heute war sie dreiundzwanzig und Sander vierunddreißig, ein Mann in der Blüte seiner Jahre, auf dem Zenit seiner Macht. Ein leiser Schauer rieselte ihr über den Rücken. Es fühlte sich an wie eine Liebkosung auf nackter Haut. Schlagartig stieg vor ihrem inneren Auge ein Bild auf: Sanders olivfarbene Hand auf ihrer nackten Brust, seine Zunge, die ihre Knospe umspielte. Eilig versuchte Ruby das Bild beiseitezuschieben, während sie den Laptop zuklappte. Ihr war wieder übel. Zitternd machte sie sich auf den Weg ins Bad.
6. KAPITEL
„Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau.“
Jetzt gab es kein Zurück mehr, es war vorbei. Ruby zitterte innerlich wie Espenlaub, aber sie tat alles, um sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen.
Aufregung? Sie erschauerte leicht unter dem Vera-Wang-Kleid, gegen das sie sich so gesträubt hatte. Aber die Einkaufsberaterin hatte es trotzdem eingepackt, und Ruby hatte sich aus unerfindlichen Gründen verpflichtet gefühlt es anzuziehen. Na gut, immerhin war heute ihr Hochzeitstag. Sie erschauerte. Was war los mit ihr? Was hatte sie erwartet? Rote Herzen und Blumen? Heiße Liebesschwüre? Um Himmels willen, der Mann neben ihr war Sander, Sander, der sie während der kurzen Trauungszeremonie in dem anonymen Behördenzimmer keines Blickes gewürdigt hatte, Sander, der nicht deutlicher hätte ausdrücken können, wie wenig er sie als Ehefrau wollte. Nun, sie wollte ihn auch nicht als Ehemann.
Mürrisch blickte Sander auf Rubys linke Hand. Der Ring, den er ihr eben über den Finger gestreift hatte, war etwas zu weit, obwohl er eigentlich für sie passend gemacht worden war. Sie war viel zu dünn, und irgendwie erschien es ihm, als würde sie jeden Tag dünner. Aber warum sollte er sich Gedanken um sie machen?
Machte er auch nicht. Frauen hatten Übung darin, andere zu täuschen. Für ihre Söhne war Ruby zweifellos die geliebte Mutter, eine ständige und zuverlässige Präsenz in ihrem Leben. Als Kind hatte er seiner Mutter dieselben Gefühle entgegengebracht. Bitterkeit stieg in ihm auf und verbreitete sich wie schleichendes Gift.
In den ersten Jahren nach dem Tod seiner Eltern hatte er sich oft gefragt, ob sein Vater seine Mutter
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