Zum Tee in Kaschmir
Tag, um den öden Lehmhäusern zu entkommen. Es sollte jedoch keine weiteren vierundzwanzig Stunden dauern, bis die grimmige Realität des Bürgerkriegs in ihr Paradies einbrach.
Schon am zweiten Abend hatte ein junges Hindumädchen aus einem benachbarten Dorf bei ihnen Zuflucht gesucht. Mitten in der Nacht war der Grundbesitzer aufgetaucht und hatte die Herausgabe des Mädchens gefordert. Die Hochzeitsgesellschaft aber hatte sich geweigert, seiner Forderung zu entsprechen. Am nächsten Tag war das Mädchen jedoch in sein Dorf zurückgegangen, ohne ihnen etwas davon zu sagen.
Am Abend des dritten Tages entschied die Gruppe, dass sie alle, da ihnen kein Transportmittel zur Verfügung stand, zu Fuà weitergehen sollten. Sie lieÃen die Brautausstattung einfach am StraÃenrand liegen. Die seidenen Kleider und wunderschön bestickten Tischtücher kamen ihnen jetzt irgendwie frivol vor. Nachdem sie gerade einmal eineinhalb Kilometer weit gekommen war, wurde die Hochzeitsgesellschaft dann von den Angehörigen eines Stammes aus der pakistanischen Nordwestprovinz aufgehalten. Sie hielten Khushs Schwager wegen seines dunkleren Teints fälschlicherweise für einen Hindu und nahmen ihn gefangen. Um die Männer davon zu überzeugen, dass sie tatsächlich kaschmirische Moslems auf dem Weg nach Pakistan waren, rezitierte die ganze Hochzeitsgesellschaft daraufhin Verse aus dem Koran.
SchlieÃlich wurde Khushs Schwager wieder freigelassen, und die Gruppe konnte ihren FuÃmarsch fortsetzen. Plötzlich sahen sie einen Berg von Leichen auf der StraÃe vor ihnen liegen. Die Männer näherten sich vorsichtig den Toten und stellten fest, dass sich unter ihnen auch das junge Mädchen befand, dem sie in der vorletzten Nacht Zuflucht gewährt hatten. Als Khush und Naazi die schockierten Gesichter ihrer Männer sahen und erfuhren, was geschehen war, wurde ihnen zum ersten Mal bewusst, wie grauenvoll dieser Bürgerkrieg tatsächlich war. Die beiden Bräute nahmen nun auch ihren Hochzeitsschmuck ab und gaben ihn ihren Ehemännern, die ihn im aufgerollten Taillenbund ihrer Hosen versteckten. Khush erinnerte sich noch gut daran, dass sie ihre Hochzeitsschuhe aus Brokat fast schon durchgelaufen hatte, als ihnen ein pakistanischer Militärkonvoi entgegenkam. Nachdem sie von den Soldaten verhört worden waren, zeigte ein junger Major Mitleid mit den beiden schönen Bräuten. Er lieà die gesamte Hochzeitsgesellschaft hinten auf seinen Armeelaster aufsteigen und brachte sie sicher nach Rawalpindi.
In Rawalpindi trennten sich die Schwestern dann. Naazi und ihr Ehemann machten sich auf den Weg in die Stadt Jahlum, während Khush und ihr Mann den Zug nach Lahore nahmen. Als Letztere dann kurz vor Tagesanbruch bei der Familie des Bräutigams eintrafen, brach in dem Haus, in dem bis zu diesem Moment groÃe Trauer geherrscht hatte, denn man hatte die beiden bereits für tot gehalten, unbändige Freude aus. Obwohl es noch nicht einmal richtig hell war, bereitete die Familie des Bräutigams unverzüglich ein festliches Hochzeitsdessert zu. Das im Pandschab beliebte Dessert mit dem Namen Zarda, eine Mischung aus Reis, Sahne, Safran, Mandeln, Rosinen, Pistazien und Limonensaft, war die erste Speise, die Khush in ihrer neuen Heimat aÃ. Auch wenn die Grenze nach Kaschmir weiterhin verschlossen blieb, so sah Khush die zeitlose Mogultradition, groÃe Augenblicke im Leben mit »etwas SüÃem im Mund« zu feiern, als gutes Omen für ihre Zukunft an.
In meiner groÃen, vom Essen so begeisterten kaschmirischen Familie wussten wir alle immer schon im Voraus, welche Speisen auf den Tisch kommen würden, und konnten so unsere Vorfreude gründlich auskosten. Khush stellte in dieser Hinsicht jedoch eine Ausnahme dar, denn sie sprach mit niemandem über das, was sie kochen wollte. Sie setzte vielmehr auf die Ãberraschung, vor allem dann, wenn sie ihr absolutes Glanzstück, nämlich das äuÃerst arbeitsintensive kaschmirische Harissa servierte. Dies ist ein Gericht, das niemand in unserer Familie sonst zuzubereiten wagte. Ihr Mut in dieser Hinsicht bestätigte jedoch nur meinen Verdacht, nämlich dass ihre schwache körperliche Konstitution oft nur vorgeschoben war.
Die Zubereitung eines Harissa nimmt viele Stunden in Anspruch, in Srinagar wurde es deshalb über Nacht gekocht und morgens in den Teegeschäften verkauft. Die Köche
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