Zum Tee in Kaschmir
flüchtige Ãhnlichkeit mit dem Gesicht der Frau, die dort auf dem Sofa lag. Manchmal glaubte ich, dass meine Tante eine ganz andere Person war und dass die Frau auf dem Foto irgendwo verloren gegangen war und nur darauf wartete, von mir entdeckt zu werden. Also lag ich reglos auf meiner Bank und lieà meine Tante nicht aus den Augen, während ich so tat, als würde ich schlafen. Dabei malte ich mir aus, wie es wohl wäre, auf die Maulbeerbäume in ihrem Garten zu klettern, die voller saftiger roter und weiÃer Beeren hingen. Nichts lag mir ferner, als zu schlafen, während ich überlegte, wie viele Schritte wohl nötig waren, um mich auf Zehenspitzen an meiner schlafenden Tante vorbei aus dem Zimmer zu schleichen.
Am Ende fehlte mir dann doch der Mut, mich aus dem Zimmer zu stehlen und die Maulbeerbäume zu plündern. Stattdessen wartete ich voller Ungeduld darauf, dass Tante Khush endlich aufwachte. Als sie sich schlieÃlich von der Couch erhob und mich fragte, ob ich gut geschlafen hätte, lieà sie meine wirre Antwort in leises Lachen ausbrechen. Und in eben diesem Moment ähnelte sie tatsächlich der Frau auf dem Foto.
Verglichen mit meinen anderen vier Tanten war Tante Khush geradezu frustrierend verschwiegen. Wahrscheinlich war dies die Folge irgendwelcher negativer Erfahrungen, die sie in ihrem Leben gemacht hatte. Sie spielte hin und wieder einmal auf ein bestimmtes Ereignis an, ohne dabei jemals ins Detail zu gehen. Selbst meine Mutter machte in diesen Augenblicken ein besorgtes Gesicht, so als sollte man dieses Thema lieber nicht ansprechen. Trotz all meiner Neugier gelang es mir lediglich herauszufinden, dass Dil-Khushs Doppelhochzeit zusammen mit der ihrer älteren Schwester Dil-Nawaz oder Naazi, wie sie in unserer Familie allgemein genannt wurde, während des Bürgerkrieges stattgefunden hatte. Ihr Vorhaben, nämlich zusammen mit ihrem frisch angetrauten Ehemann in die wunderschöne Stadt Bombay zu reisen, war durch den Aufruhr, den die Teilung Indiens verursachte, zum Scheitern verurteilt. Stattdessen gerieten sie in etwas, das sich als gefährliche sechstägige Reise durch Feindesland entpuppte. Ihr Ziel war der Familiensitz ihres Ehemanns in Lahore, das jetzt in dem neuen Staat lag, der zu dieser Zeit kaum drei Monate alt war. Das war alles, was ich über dieses geheimnisvolle Ereignis in Erfahrung hatte bringen können, und so sah ich in meiner Vorstellung einfach zwei prächtig geschmückte kaschmirische Bräute vor mir, die einfach nur an einer Kreuzung die falsche Abzweigung genommen hatten.
Erst viele Jahre später, als ich Khush anlässlich eines Besuchs in Pakistan wiedersah, erfuhr ich aus ihrem eigenen Munde, was sie und ihre Schwester Dil-Nawaz auf der Flucht von Srinagar nach Lahore erlebt hatten. Und selbst in dieser beklemmenden Schilderung spielte das Essen eine wichtige Rolle. Die beiden Bräute Dil-Khush und Dil-Nawaz, ihre Bräutigame und eine Handvoll Verwandter hatten einen kleinen Bus gemietet, mit dem sie nach Lahore fahren wollten. Es dauerte nur wenige Stunden, dann hieà es, dass sie sowohl von Hindus als auch von Sikhs verfolgt würden. Der Busfahrer lieà seine Fahrgäste daraufhin unter dem Vorwand, dass es Probleme mit dem Motor gäbe, auf halbem Weg in einem Dorf einfach im Stich. Tatsächlich war er selbst Hindu und fürchtete wohl, dass man ihn umbringen würde, wenn bekannt wurde, dass er Moslems fuhr.
Als der wohlhabendste Grundeigentümer in dieser Gegend erfuhr, dass die beiden Bräute die Töchter von Khan Sahib Sirajuddin Ahmad Dar waren, begleitete er die Hochzeitsgesellschaft höchstpersönlich zum Stammsitz seiner Vorfahren in die indische Stadt Ramban. Die Enklave seiner Vorfahren entpuppte sich dabei als eine Ansammlung bescheidener Lehmhäuser. Khush und Naazi war nicht bewusst, dass in beiden Ländern mittlerweile ein blutiger Bürgerkrieg tobte. Sie glaubten in ihrer grenzenlosen Naivität, dass ihre Ehemänner ihre Flitterwochen auf dem Land verbringen wollten. Ihre Gastgeber brachten ihnen jeden Tag frische Buttermilch in Tontöpfen, Linsen, Senfgemüse, Spinat und Rotis aus Maismehl. Für Khush sollte das Senfgemüse ihr ganzes Leben lang eine begehrenswerte Delikatesse bleiben.
Die nächsten drei Tage verbrachten die Bräute mit ihren Ehemännern im Wesentlichen in den Wäldern der näheren Umgebung. Sie picknickten dort jeden
Weitere Kostenlose Bücher