Zum Tee in Kaschmir
niemandem von uns gestattet, diese Unterlagen einzusehen, obwohl sie einen groÃen Teil der Geschichte meiner GroÃeltern dokumentierten. Es war jedoch beruhigend zu wissen, dass Onkel Bashir es war, der diese Papiere in seiner Obhut hatte. Im ersten Stock befand sich ein wahres Labyrinth von Schlafzimmern, in dem man hin und wieder auch auf ein Badezimmer stieÃ. Es gab auch einen geheimnisumwitterten zweiten Stock, den von uns jedoch noch nie jemand betreten hatte.
Die Mahlzeiten in diesem Haus fanden manchmal in zwei verschiedenen Räumen statt: Die Erwachsenen aÃen im Speisezimmer, und alle Nichten und Neffen nahmen im groÃen Wohnzimmer Platz. Dann wurden Dutzende von Eiern zu pakistanischen Omeletts verarbeitet, und es wurden eingemachte Karotten mit Mandeln auf groÃen Speisetellern anstatt in Schälchen serviert. Mein Vater zog meine Mutter oft damit auf, dass ihr Bruder jederzeit ein ganzes Dorf bewirten konnte.
Der Sonnenschein dieser Familie war jedoch ohne Zweifel Akhtar, die Frau meines Onkels. Sie war eine kleine, rundliche Frau, die eine Hornbrille und einen groÃen Diamanten im rechten Nasenflügel trug. Sie begegnete den Wechselfällen des Lebens stets mit einem Lachen und galt als die Geselligste in unserer groÃen Familie. Plötzlich zwanzig Gäste im Haus zu haben, war für sie absolut kein Problem. Sie war eine kühne und fantasievolle Köchin, die sich von der Strenge ihres Mannes nicht entmutigen lieà und, wann immer es ihr möglich war, eine Art entspannter Lagerfeueratmosphäre schuf. Oft entschied sie sich für ein Gericht, dessen Zutaten in der kleinen Stadt Campbellpur nicht zu bekommen waren, und ersetzte diese dann selbstbewusst einfach durch etwas anderes. Auf diese Weise schuf sie oft eine ganz eigene Variante einer überlieferten Speise. Dasselbe Selbstvertrauen zeigte sie auch beim Nähen. Es war allgemein bekannt, dass sie eine Jacke genauso fachmännisch zuschnitt wie sie eine Lammkeule entbeinte.
Als die überaus kultivierte Akhtar damals als Braut aus dem eleganten Bombay kam, musste sie feststellen, dass sich ihre Hochzeitsreise als abenteuerlicher Ritt durch die nördlichen Territorien entpuppte. Also legte sie kurzerhand ihre feinen Kleider aus Seide ab, zog Reithosen und Stiefel an, setzte einen Sonnenhut auf und ritt dann, traurige indische Liebeslieder singend, neben ihrem Mann her. Wie meine Tante Naazi, war auch sie im Umgang mit Kindern alles andere als autoritär und ging auf jeden Wunsch sofort ein. Wenn jemand an einem regnerischen Tag Appetit auf Kardi, das sind KlöÃe aus Kichererbsenmehl in Kurkuma-Joghurt-SoÃe, hatte, so stand das Gericht kurz darauf auf dem Tisch. Gelegentlich warf sie ihren Haushaltshilfen auch irgendein einfallsreiches Schimpfwort an den Kopf, um sich anschlieÃend vor Lachen auszuschütten. Niemand beschwerte sich darüber, denn alle wussten, dass man sich auf sie verlassen konnte und dass sie ihre Angestellten jederzeit vor meinem strengen Onkel in Schutz nahm.
Meiner Meinung nach war die etwas distanzierte Haltung, die einige in unserer Familie meinem Onkel gegenüber einnahmen, nicht gerechtfertigt. Er sorgte stets dafür, dass seine Mutter und seine Stiefgeschwister mit erstklassigem Basmatireis und Weizenmehl versorgt wurden. AuÃerdem lag ihm die Zusammenarbeit in der Familie sehr am Herzen. Sein Haus war ein Ort, wo jedes Mitglied des groÃen kaschmirischen Klans jederzeit willkommen war und gastfreundlich aufgenommen wurde. Das Haus in Campbellpur hatte er von der pakistanischen Regierung als Entschädigung für den 1947 verlorenen Familienbesitz in Srinagar erhalten. Dass er sich für Campbellpur entschieden hatte, lieà jene innere GröÃe erahnen, für die auch mein GroÃvater bekannt war. Mein Onkel hatte groÃen Wert darauf gelegt, dass sich sowohl der Indus als auch Relikte der Moguln in der Nähe befanden. Das Land ringsum wurde künstlich bewässert und war fruchtbar, zudem gab es reichlich Weideland. Da es hier auch Wildenten und schwarze Rebhühner gab, fehlte es an seiner Tafel an nichts.
Campbellpur, das am Zusammenfluss von Indus und Kabul liegt, kann auf eine abwechslungsreiche Geschichte zurückblicken. Die Stadt ist als Geburtsort des Mathematikers und Grammatikers Panini bekannt, der hier im Jahre 520 v. Chr. das Licht der Welt erblickte und sich später vor allem mit der Phonetik, Phonologie und Morphologie
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