Zum Tee in Kaschmir
über die verspeisten Mengen erzählte, war zwar unglaublich, nichtsdestotrotz entsprach es der Wahrheit. Ich betrachtete diese Nachspeise sozusagen als Geheimwaffe meiner Mutter. Es sollte Jahre dauern, bis ich sie selbst ebenso gut zubereiten konnte.
Spät an diesem Abend stimmte der mächtige Gajrela, der in einer groÃen Schüssel im Kühlschrank wartete, eine Art Sirenengesang an, der aus der Speisekammer in mein Schlafzimmer herüberschallte. Ich beschloss, meinen Bruder nicht zu wecken, sondern allein einen mitternächtlichen Raubzug durchzuführen. In der dunklen Speisekammer öffnete ich dann den Kühlschrank und starrte eine Ewigkeit die blaue Schüssel an, die mit essbarer Folie bedeckt war. Ich wusste, dass die Folie, die bis zum Rand der Schüssel reichte, sofort reiÃen würde, wenn ich sie mit dem Löffel auch nur berührte. Also schloss ich den Kühlschrank, dann öffnete ich ihn jedoch wieder und wog meine Möglichkeiten sorgfältig gegeneinander ab. Fand ich den Mut, an einem solchen Festtag den Zorn meiner Mutter auf mich zu ziehen? In einem Anfall wahrer Kühnheit fuhr ich mit einer Gabel vorsichtig am Rand der Schale entlang, löste dabei behutsam die Folie und schuf auf diese Weise einen Spalt, durch den ich das Dessert herauslöffeln konnte. Jeder Bissen, der meine Kehle hinunterglitt, war mit den auserlesensten Schuldgefühlen gewürzt. In diesem Moment wurde mir eines bewusst: Dieses Dessert hatte meinen Gaumen auf so perfekte Weise verführt, dass mir vollkommen egal war, was für eine Strafe mich erwartete, auch wenn sie noch so drakonisch ausfallen mochte. Es waren Omar Chaijams Worte, die in diesem Moment in meinen Ohren hallten: »Der Himmel nur eine Vision erfüllten Verlangens / Die Hölle der Schatten, den eine brennende Seele wirft.«
Als Jugendliche war ich fest davon überzeugt, dass die Desserts meiner Mutter wahre Wunder vollbringen konnten. Mehrmals im Jahr stand plötzlich ein kleiner Turm von etwa handtellergroÃen Schälchen in unserer Speisekammer, die in groÃen Strohkörben von irgendeinem geheimnisvollen Ort ausgeliefert worden waren. Jede der Schalen war in Zeitungspapier eingewickelt und voller Staub. Wie ich später erfuhr, waren diese Schälchen auf Töpferscheiben mit der Hand gedreht und anschlieÃend in holzbefeuerten Ãfen gebrannt worden. Diese unglasierten GefäÃe waren echte Terrakotta und hatten oft unregelmäÃige Ränder. Das Leben und die Gedanken des Töpfers, der sie erschaffen hatte, hatten sich als Daumenabdrücke darauf verewigt. Selbst die Stärke des Tons variierte, und dennoch verloren sie dadurch absolut nichts von ihrem rustikalen Charme.
Die Tonschalen wurden über Nacht in kaltes Wasser gestellt und dann getrocknet. Es war der elegante Firni meiner Mutter, ein Pudding aus Reismehl und Sahne, der in diese Schälchen gefüllt wurde, dann mit Varak, essbarer Folie, bedeckt und schlieÃlich mit fein gehackten Pistazien garniert wurde. Selbst bei einem formellen Essen veränderten die mit dem Dessert gefüllten Tonschälchen stets auf höchst angenehme Weise die Atmosphäre. Man fühlte sich sozusagen sofort geerdet und vergaÃ, zumindest für kurze Zeit, jede nostalgische Sehnsucht nach irgendwelchen kulturellen Wurzeln. Neben den genialen Servierschälchen, die weniger als zehn Cent pro Stück kosteten, verblasste feines Porzellan oder kostbares Edelmetall. Der Ton kühlte den Inhalt und nahm mit der Zeit das Wasser aus der Milch auf, so dass das Dessert allmählich eine immer dickere, cremigere Konsistenz annahm.
Meine Mutter bereitete Firni in unglaublich groÃen Mengen zu, denn sie begnügte sich nie damit, diese Delikatesse nur ihrer eigenen Familie zu servieren. Die kaschmirische Eigenschaft, darüber Freude zu empfinden, wenn man andere Menschen mit Speisen verwöhnen kann, war bei meiner Mutter mehr als ausgeprägt.
Im Alter von dreizehn beziehungsweise vierzehn Jahren wurden ich und mein Bruder einmal in der Woche von einem Privatlehrer im Lesen des Korans unterwiesen. Das heilige Buch der Moslems war auf Arabisch verfasst. Obwohl es im Laufe der Zeit in viele Sprachen übersetzt worden war, verlangte es die spirituelle Tradition, dass man der arabischen Sprache soweit mächtig sein musste, um den Koran im Original lesen zu können. Die Unterrichtsstunden fielen niemals aus,
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