Zungenkuesse mit Hyaenen
Raubtiere auf Beutezug, die miteinander nicht sein wollten und ohneeinander nicht leben konnten. Diese beiden Menschen hatten mich verändert, auch das musste in die Geschichte einfließen. Das Tagebuch der Müllerin, ihre Wohnung, ihre illustren Freunde auf der einen Seite, Müllers Narzissmus, seine machohafte Weltsicht, sein geistiger Verfall auf der anderen. Allein mit welcher Chuzpe er aufrechterhielt, was bröckelte. Wie viel Kraft er aufbrachte, um seinen Schmerz über den Verlust der Müllerin zu verbergen, und wie froh es ihn gleichzeitig machte, dass nicht er der Tote war, dass er weiterlebte, während sie verweste. Und mittendrin ich, der Zauberlehrling, der Eleve, Patensohn des Verlegers, Nachmieter der Müllerin, einziger Sohn der mysteriösen Großmeisterin Mona, vaterlos und frisch entjungfert.
Ich würde, wenn es sein müsste, die ganze Nacht lang arbeiten in diesem Séparée im Puff in Dingenskirchen, ich würde mich von Hugo zu Hugo hangeln, immer größer, klüger, stärker werden, ich würde wachsen, wie Aladins Geist aus der Flasche wuchs, und am Ende wäre ich kein Meerschwein mehr, das man streicheln will, sondern ein kraftstrotzendes Mammut mit todbringendem Atem, das sich hinunterbeugt zu Menschen, zu denen es bis dahin angstvoll aufsah, ein Stampfen meines Fußes könnte ganze Landschaften vernichten, ich war der Drachentöter, gekommen, die Welt vom Elend zu erlösen.
Kurz vor Mitternacht schickte ich die E-Mail an Big Ben ab. Vielleicht eine Stunde später wachte ich in Barbie-Omas Armen auf, bekotzt und elend, mit entsetzlichem Schädel, im Delirium vom Stuhl gefallen.
»Sie müssen sie gehasst haben«, waren meine ersten Worte.
»Wen denn, Jungchen«, sagte sie und streichelte mein erhitztes Gesicht.
»Die Rote Müllerin.«
»Sie ist ja tot«, sagt Barbie-Oma, diese zerstörte, traurige Frau, »sieist ja tot.« Sie wiegte mich in ihren Armen, als müsse sie mich trösten, dass die Rote Müllerin tot sei, als sei ich ihr Enkel, wie die Großmutter, die zu sein sie sich verbot, wiegte sie mich und summte ein Lied, bis ich wieder schlief.
Der Morgen fand mich im King-Size-Bett im Séparée. Ich schreckte auf, richtete mich auf und versuchte herauszufinden, was Traum, was tatsächlich geschehen war. Ich war hier im »Aphrodite«, so viel stand fest. Drüben in der Gelben Villa frühstückte vermutlich Müller und las den Mittagskurier – o Gott, nicht auszudenken! Hatte ich die E-Mail abgeschickt? Ich checkte den Ordner »Gesendet« – ich hatte!
Unter Schock griff ich nach meinen Sachen, die ordentlich neben mir über der Stuhllehne hingen, zog mich an, schnappte die Abschrift des Tagebuchs, meine Notizen, meinen Computer und schlich mich wie ein Dieb aus dem Haus.
VERSUCHSKANINCHEN
Es war früh am Morgen. Die Sonne würde bald aufgehen, es war April, vor einigen Wochen war die Sommerzeit ausgerufen worden, also musste es zwischen 5 und 6 Uhr sein. Es war diesig, keine Wolke am Himmel, der Tag versprach, heiß zu werden. Dingenskirchen lag noch im Tiefschlaf. Nur Rübezahl war schon wach. Von weitem sah ich ihn zwei Säcke über die Dorfstraße schleppen. Der Wachmann vor Müllers Villa nickte, als habe er schon gewartet, und öffnete mir Tor und Tür. Miss Marple schien noch nicht im Haus zu sein, alles war ruhig. Ich erklomm die Stufen zum Dachgeschoss, betrat mein Gästezimmer und zerwühlte mein Bett, als hätte ich die Nacht in der Gelben Villa verbracht. Tagebuch und Computer legte ich auf den Tisch. Ein Blick in den Spiegel des Gästebades erschreckte mich. Es war nicht nur der ungepflegte Eindruck, den eine wilde Nacht hinterlässt,es war nicht nur mein Haar, das ohne Scheitel und Pomade widerspenstig, fast wild in mein Gesicht fiel, es war der Ausdruck meines Gesichts, der Anflug von kalter Bestimmtheit, der mir aus den Augen sprang. Ich duschte, putzte mir die Zähne, wienerte meine Schuhe mit Müllers fünflagigem Toilettenpapier, versuchte gar nicht erst, die Frisur meines bisherigen Lebens wiederherzustellen, richtete aber meine zerknitterte Kleidung, so gut es ging.
Punkt acht ging unten die Haustür. Das musste Miss Marple sein. Ich hörte Aufräumgeräusche, das Radio wurde eingeschaltet, die Espressomaschine jaulte auf, der Kühlschrank wurde geöffnet, geschlossen, geöffnet, geschlossen, die Geschirrspülmaschine sprang an. Miss Marple begann, das Frühstück zu richten. Ich schlich mich die Treppe hinunter, in Müllers Schlafzimmer war noch alles still, und
Weitere Kostenlose Bücher