Zungenkuesse mit Hyaenen
pflückte rasch die Papiere von der Wand.
»Ach«, sagte Frau Puvogel, ein Tremolo der Enttäuschung in der Stimme, »hab sowieso meine Brille nicht auf. – Warum ich komme: Ich hab selbstgemachte Marillenmarmelade für Sie!«
»Allerbeste Frau Puvogel, danke für die Marmelade, aber ich muss noch arbeiten«, sagte ich liebevoll, aber nicht ohne Strenge, nahm das Glas, legte meinen Arm fest um die kleine, stramme Frau und führte sie zur Tür, so wie Big Ben mich in sein Büro expediert hatte. Frau Puvogel bremste aus. Sie gehörte zu der Sorte Mensch, der jeder Wink mit dem Zaunpfahl entging.
»Verstehe«, sagte Frau Puvogel und empfahl sich mit Türknall.
Das würde ich ausbügeln müssen.
Ich zog am Einweckring des Marillenmarmeladenglases. Es gab ein schmatzendes Geräusch von sich. Ich öffnete es und begann es auszulöffeln. Die Marillenmarmelade schmeckte etwas eingeschnappt. Mein neues Leben ermöglichte eine Anarchie des Essens, die mir guttat. Es gab keine festen Zeiten mehr, keine Rituale, keine Anstandsregeln, Gebete sowieso nicht. Ich aß im Stehen, im Gehen, im Liegen, ich aß die Wurst auch ohne Brot und löffelte Marmelade aus dem Glas. Es war herrlich. Auf meinem Strickmuster verband ich Frau Puvogel und den Cellisten mit einem schwarzen Strich, dem Wort »Hass« und einem Fragezeichen. Dann nahm ich mir den nächsten Artikel vor: »Die Rote Müllerin – wer erbt?« Er befasste sich nochmals mit den nicht aufgefundenen Verwandten. Es war von einem Vater die Rede, der dem Alkoholismus verfallen sei, von einer Mutter, die in einer psychiatrischen Klinik lebte, und von einem Testament, nach dem fieberhaft gesucht wurde. Die Trauerfeier für Felicitas Müller würde stattfinden, sobald die Leiche von der Gerichtsmedizin freigegeben war – da musste ich auf jeden Fall hin. Vielleicht tauchte ja ein Familienmitglied auf. Vielleicht käme der Erfolgsproduzent, und ich könnte mit ihm in Kontakt treten.
Mein Smartphone klingelte. Das Vorzimmer von Big Ben. Verdammt! Jetzt würde er fragen, wie weit ich bin.
»Na, Michi, wolltest du mich nicht jeden Tag anrufen?«
Blut schoss mir in den Kopf. »Ja, aber ...«
»Was hast du denn herausgefunden?«
Ich zögerte. Was hatte ich schon? Ein Honigbrikett in einer Tüte. Und selbst wenn ich es entziffern könnte: Sollte ich überhaupt versuchen, das Geheimnis der Roten Müllerin zu erkunden, sollte ich es überhaupt preisgeben, es ins Maul der Öffentlichkeit stopfen? Was war mir näher, das Hemd oder die Hose? Aber ich musste ja meinDasein fristen. Sie war tot, ich musste leben. Ich würde liefern, so oder so.
»Ich hab das Tagebuch von Felicitas Müller.«
Er schwieg. Warum schwieg er? Hatte er nicht verstanden?
»Onkel Ben?«
»Hast du es schon gelesen?«
»Nein, es ist unleserlich.«
»Wieso denn?«
»Die Seiten kleben zusammen.«
»O tempora, o mores. Kriegst du das hin?«
»Klar, Onkel Ben! Nur eine Frage der Zeit!«
»Schenial«, rief Big Ben. »Guter Junge! Streng dich an, dann hast du bald die ganze Serie fertig! ›Das Tagebuch der Roten Müllerin.‹ Nein, Moment – ›Das geheime Tagebuch der Roten Müllerin.‹ Du, weil ich dich grad dran habe: Ich mache morgen eine kleine Kostümparty. Rokoko. Möchtest du dazukommen?«
ONE-HIT-WONDER
Felicitas Müller braucht einen eigenen Tag-und-Nacht-Rhythmus, sie muss sich mit ihren Dingen umgeben, wenn sie arbeitet, urbane Geräusche hören, Lichter sehen, Restaurantmief riechen, abgestandenen Tabakqualm, Touristenschweiß und das verbrannte Fett der Würstchenbuden. Nach ihrem Romanerfolg mit 20 hat sie kein weiteres Buch zustande gebracht – »Eiskalt« war ein One-Hit-Wonder geblieben. Sie ist keine Literatin. Auch die Sache mit der Schauspielerei ist zum Erliegen gekommen. Es ist wohl nicht weit her mit ihren Talenten.
Nun lebt sie durch Müllers Vermittlung vom Tatort-Schreiben. Eine anständig bezahlte Routinearbeit, wenn man nicht zimperlich ist, was Änderungen angeht.
Im Moment ist es kniffelig. Das Ermittlerteam hat gewechselt, der alte Kommissar ist in Rente gegangen, oder, wie er der Presse misslaunig diktierte, »abgewickelt worden«. Es müssen neue Figuren her, die Produzenten, die Sender mischen sich ständig ein. Einmal soll es eine Kommissarin mit Assistent sein, einmal ein Kommissar mit Assistentin. Einmal heißt es, unbedingt Dialekt und lokale Verwurzelung, dann wieder Urbanität, bloß kein Lokalkolorit. Einmal soll das Stammpublikum gehalten, dann wieder »die
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