Zungenkuesse mit Hyaenen
durchs Haar und lief weiter. Barbie-Oma stand nun direkt hinter mir.
»Du wohnst also bei Müller?«, fragte sie und legte mir zärtlich die Hände auf die Schultern.
Barbie-Omas Hände, Frau Puvogels Dampf, Davids Oberarme, Janas Atem, Kukis rissige Lippen, Gritlis Schweizer Küsse verschmolzen zu einem vibrierenden großen Körper, der mich umschlang. Unterschiedliche Gefühle mischten sich in mir, behagliche und unbehagliche. Die Dinge liefen aus dem Ruder. Sie liefen womöglich in die falsche Richtung, ich hatte den Boden unter meinen Füßen verloren. Mutter! Wo war Mutter! Sie war kein allwissender Freund mehr, kein Schutz, kein Schild. Ich nahm sie nur noch schemenhaft wahr, sie stand wie eine Polizistin an der Kreuzung und blies auf einer Trillerpfeife. Die Trillerpfeife war im Verkehrslärm kaum zu hören. Die Verkehrssituation war, milde formuliert, unübersichtlich. Und ich, Unfallverursacher und Verkehrsopfer zugleich, schlingerte im Strudel der Unwägbarkeiten.
Der Gedanke an Mutter, an Müller, an Big Bens Deadline, die Lügen, mit denen ich Gritli auf Abstand gehalten hatte, der Verrat, den ich an der Müllerin beging, indem ich mich anschickte, ihre privaten Notizen zu lesen, um sie ins Maul der Öffentlichkeit zu stopfen, und das, obwohl es sich bereits schloss, all das war nicht so, wie ich mir mein Leben in der großen Stadt vorgestellt hatte. Ich hatte immer nur vom Glanz geträumt, hatte die Nase in der Luft gehabt und stand nun mit pulsierendem Unterleib im Schlamm, kein Haar am Sack. Vielleicht war das etwas, das notgedrungenerweise dem Glanz vorausging, vielleicht hatten alle schimmernden Rizzer Persönlichkeiten einst mit pulsierendem Unterleib im Schlamm gestanden, aber nun wusste ich, dass der schmatzende Morast zwischen dem Glanz und dem Abgrund lebensgefährlich war, viele erreichen das andere Ufer nicht, das nächste Straucheln könnte auch mich hinabziehen.
»Noch mal das Gleiche?«
Ich drehte mich um und bestellte zwei weitere Hugos.
»Ist Doktor Müller ein Freier von Ihnen?«, fragte ich Barbie-Oma.
Sie stand gerade vorm Spiegel und richtete ihre blonde Turmperücke.
»Erstens sagen wir Klient, und zweitens ist er mein Schwager.«
HALLUX VALGUS
Lydia ist 19, als sie Sebastian heiratet. Er und sein Bruder sind Klienten, gutaussehend, lustig, lebenshungrig. Reich nicht, aber frech und charmant, zwei Arbeiterkinder, die hoch hinauswollen. Sebastian sieht besser aus, aber sein pockennarbiger Bruder ist klüger, sardonischer, ehrgeiziger. Sie verliebt sich in den Bruder, und Sebastian verliebt sich in sie. Das ist ein Jahr lang die unausgesprochene Konstellation, so lange macht sie es mit beiden umsonst, bis der Tag kommt, an dem ihr Sebastian einen Antrag macht. Sie will keine Nutte bleiben. Sie will einen guten Ruf, Familie, etwas Wohlstand, vielleicht ein Haus. Gut, sie liebt den Bruder, aber der ist nicht interessiert, und Sebastian trägt sie auf Händen. Sie heiraten kirchlich.
Der Bruder des Bräutigams sitzt mit grimmigem Gesicht im Gottesdienst. Als sich die Gemeinde erheben soll, um zu beten, bleibt er sitzen. Der Pfarrer sieht ihn strafend an, der Bruder schaut böse zurück. Lydia denkt: Er ist des Teufels.
»Man heiratet nicht«, sagt der Bruder zu Sebastian statt einer Gratulation, »und schon gar keine Nutte.« Sebastian und Lydia fahren in die Flitterwochen nach Venedig. In Venedig feiert Sebastian seinen zwanzigsten Geburtstag. Am Tag nach ihrer Rückkehr fahren die Brüder in Müllers neuem Auto herum. Abends klingelt ein Polizist an Lydias Tür. Er teilt ihr mit, dass Sebastian bei einem Unfall ums Leben gekommen sei. Sie will ihn sehen, man rät ihr ab. Zu Brei gefahren im Käfer des Bruders. Der Bruder war am Steuer gewesen, beide unangeschnallt, Sebastian an einen Baum geknallt und mausetot. Der Bruder hat überlebt. Er hat sich das Rückgrat gebrochen, aber er lebt. Ihr Geliebter lebt, ihr Ehemann, ihr Versprechen an die Bürgerlichkeit, ist tot.
Im Puff nehmen sie die frisch verwitwete Lydia mit Kusshand zurück. Sie ist eine gute Nutte, begabt, tüchtig, sie hat mit Abstand die schönsten Beine von allen. Sie besucht Müller im Krankenhaus, später kommt er ab und zu im Rollstuhl vorbei. Er zahlt gut, er macht Geschenke. Sie streichelt seine Schultern, seine Brust, seine Beine. Sie stimuliert ihn, er kann noch Sex haben. Beide trösten sich aneinander, die Witwe und der Krüppel, es ist, wenn auch auf tragische Lesart, eine Win-win-Situation. Lydia
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