Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
mich am liebsten in ein Taxi gesetzt hätte. Aber selbst wenn ich mich dafür entschieden hätte, genug Geld besaß ich ja, wohin hätte es mich fahren sollen? Ich hatte kein Ziel außer Andrés Adresse. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich in diesem Augenblick befand.
Gegen elf Uhr morgens besorgte ich mir in einem Tabakgeschäft einen Plan de Paris , ein auberginefarbenes Taschenbuch, das nach den Nummern der einzelnen Arrondissements angeordnet war, zu denen es jeweils eine Karte und ein Straßenverzeichnis gab. Ich setzte mich auf eine Parkbank, entfaltete die Gesamtkarte der Stadt und stellte dabei fest, daß ich mich in unmittelbarer Nähe der Champs-Elysées und des Arc de Triomphe befand. Ich war nördlich der Seine stundenlang parallel zum Fluß gegangen.
Ichentschloß mich, in die unbekannten Regionen der Métro hinabzusteigen, die mir zunächst etwas unheimlich waren und in denen sich offenbar nur selbstbewußte Einheimische bewegten, die ihren Weg so gut wie ihr Ziel kannten und genau wußten, mit welcher Bahn sie dorthin gelangen würden. Vermutlich rechnete niemand damit, daß ihn jemand in seiner Hast und Entschlossenheit unterbrechen und danach fragen würde, in welche Richtung er fahren müsse, um an einen bestimmten Ort zu gelangen.
Mit einem Bündel kleiner, rechteckiger Fahrkarten aus dickem, sandfarbenem Karton in der Hosentasche, die ich zusammen mit dem Stadtplan im Tabakgeschäft gekauft hatte, begab ich mich zur Station Miromesnil. Ich hatte mich entschieden, zum Châtelet zu fahren, zum einen, weil dort – wie ich inzwischen festgestellt hatte – mehrere Métrolinien zusammenkamen, zum anderen, weil mir schien, daß sich etwa dort beim Hôtel de Ville, dem Rathaus, das Zentrum der Stadt befinden mußte, was zwar nicht ganz stimmte, aber auch nicht völlig falsch war. Daß es in Wahrheit gar kein Zentrum gab, weil die Stadt zu groß war, begriff ich erst viel später. Zu diesem Entschluß brachte mich nicht zuletzt der Umstand, daß sich in der Nähe des Rathauses die ehemaligen Markthallen befanden, die, wie ich in der Zeitung gelesen hatte, unmittelbar vor dem Abriß standen. Die Proteste, die es gegeben hatte, waren folgenlos geblieben und vielleicht auch nicht hartnäckig genug verfochten worden. Der Hauch der Revolution, der wenige Jahre zuvor die halbe Stadt erfaßt hatte, war den Umstürzlern inzwischen ausgegangen. In dieser Gegend, sagte ich mir, würde ich bestimmt ein günstiges Hotel finden.
In der Métrostation passierte ich den gleichgültig blickenden Poinçonneur, der die Fahrkarte mit einer Lochzange,die er in seiner schwarzbehandschuhten Rechten hielt, entwertete, und schon befand ich mich im Untergrund von Paris. Daß ich instinktiv begriff, in welche Richtung ich fahren und wo ich umsteigen mußte, um auf dem kürzesten Weg zum Châtelet zu gelangen, hatte vielleicht damit zu tun, daß ich mich in einem Zustand fortgeschrittener Erschöpfung befand. Plötzlich war mein Kopf frei und für alles Neue und Unbekannte empfänglich. Mir schien nichts einfacher als das Erfassen der Linienpläne. Bei der übernächsten Station stieg ich um und nahm die Métro in Richtung Châtelet. Sechs Haltestellen später war ich dort, wo ich hinwollte. Während der ganzen Fahrt hielt ich meinen kümmerlichen Seesack umklammert, in dem außer dem gerahmten Foto meines Vaters, das ich in Zeitungspapier gewickelt hatte, nichts wertvoll war.
Ich folgte eine Weile der Rue de Rivoli, bog dann in die Rue St. Martin ab und zwei Straßen später nach rechts in die Rue de la Verrerie. Keine Ahnung, warum ich ausgerechnet das Hotel St. Merry wählte. Vielleicht, weil es keinen besonders einladenden Eindruck machte und gewöhnlich, ja etwas heruntergekommen wirkte. Es gab keine Drehtür und keine Eingangshalle. Man konnte es leicht übersehen, weil es unscheinbar war, was mir paßte. Die Stadt war viel zu groß, um einen Jungen aufzuspüren, von dem man nicht einmal wußte, in welchem Quartier er sich aufhielt. Und selbst dann wäre es nicht leicht.
Das Hotel schien mir ein günstig gelegener und gut getarnter Zufluchtsort. Ich hatte keinen Grund, mich zu verstecken, aber das Gefühl, unentdeckt zu bleiben, gab mir mehr Sicherheit oder jedenfalls die Sicherheit, die mir nötig schien. Das Hotelschild konnte man leicht übersehen, auch die Eingangstür, im Grunde genommen das ganze Haus, ein schmales, mehrstöckiges Gebäude in unmittelbarerNachbarschaft der dahinterliegenden ehemaligen
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