Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
nicht nach Paris, sie zogen den Süden, den hellen, klaren Himmel und die Wärme vor. Im Leben meines Vaters aber, dachte ich, hatte Paris eine wichtige Rolle gespielt. Ich hatte keinen Beweis dafür außer dem Stempel auf der Rückseite eines Fotos, aber ich glaubte es ebenso deutlich zu spüren wie die Anwesenheit meines Vaters in diesem Bild. Ich wußte nicht, wann und wie oft sich mein Vater hier aufgehalten hatte, aber ich bildete mir ein, daß ihm Paris wichtiger gewesen war als jede andere Stadt der Welt. Hier sah ich ihn freier atmen, so wie ich jetzt atmete und meine Zigarette rauchte, beinahe wie ein Erwachsener, den niemand behelligte oder zurechtwies.
Mein Körper stellte sich auf das Nikotin ein, so schnell und so gut, daß er es bald stündlich brauchen würde und lange Zeit auch gut auf leeren Magen vertrug. Ich habe erst viele Jahre später, als sich ernsthafte Probleme einstellten, zu rauchen aufgehört.
Nachdem ich etwa anderthalb Kilometer die Rue du Faubourg St. Martin entlanggegangen und der Seesack mir allmählich immer schwerer geworden war, betrat ich ein Bistro, das entweder bereits geöffnet oder noch nicht geschlossen hatte. Die wenigen Gäste im Coq d’Or sahen erschöpft aus, aber, wie mir schien, nicht von einer Arbeit, unter der ich mir etwas vorstellen konnte, sondern vom Leben selbst, einem Leben, das keinerlei Ähnlichkeit mit dem Leben Rolands und meiner Mutter hatte. Bis auf eine ältere Frau, die allein unter einem Spiegel saß und deren erschreckend dünner Körper in regelmäßigen Abständen von furchtbaren Hustenkrämpfen geschüttelt wurde, rauchtenalle, entsprechend war die Luft. Niemand blickte auf, als ich mich nach vorn ans Fenster setzte. Einige tranken Kaffee, einige hatten kleine Schnapsgläser vor sich stehen, gefüllte und leere. Man unterhielt sich kaum, ich verstand kein Wort, aus einem scheppernden kleinen Lautsprecher, der in einer Ecke hing, ertönte Musik, die immer wieder durch die Stimme eines Nachrichtensprechers unterbrochen wurde.
Kaum hatte ich mich gesetzt, als ein Kellner an meinen Tisch trat. Er war auffallend blaß, aber entschieden munterer als seine Gäste. Er bewegte sich schnell und elegant, dabei schien er nichts ziellos oder unüberlegt zu tun. Er trug einen etwas fleckigen, jedoch tadellos sitzenden schwarzen Anzug. Wie lange mochte er schon wach sein, wie viele Stunden Arbeit hatte er hinter sich? Er legte eine Speisekarte vor mich hin, ein unübersichtlich bedrucktes, in Plastikfolie gehülltes dünnes Blatt Papier mit einer Liste unterschiedlicher Speisen. Auf seinen weißen Händen zeichneten sich dünne blaue Adern ab. Bevor er sich zurückzog, lächelte er mir aufmunternd zu. Er behandelte mich, als sei ich ein wichtiger Gast in einem wichtigen Restaurant. Ich fühlte mich ertappt. In dieser Stadt war ich so unbedeutend wie dieses Lokal, so unscheinbar wie dessen Gäste, von denen vermutlich nicht jeder ein Dach über dem Kopf hatte.
Mein Französisch war alles andere als flüssig, aber es bereitete mir keine größere Mühe, das Angebot auf der Speisekarte zu verstehen. Kaum hatte ich mich entschieden und sie wieder hingelegt, als der Kellner schon vor meinem Tisch stand. Ich bestellte Milchkaffee und ein Omelett, Dinge, die ich zu Hause nie gegessen hätte. Ich war hungrig nach der langen nächtlichen Fahrt.
Ich versuchte, die Hände des Kellners zu ignorieren, als er zuerst den Kaffee, den er an einer zischenden, dampfendenMaschine selbst zubereitet hatte, und zehn Minuten später den großen Teller vor mich hinstellte, der von einem unsichtbaren Angestellten durch die Durchreiche geschoben worden war. Ein Omelett und ein halbes Baguette. »Attention, l’assiette est chaude.« Ich wich seinem Blick aus, der lange und fragend auf mir lag. Hielt er mich für einen, der von zu Hause weggelaufen war? Durchschaute er mich? Mußte sich nicht jeder wundern, einen Halbwüchsigen allein um diese Zeit in dieser Stadt zu sehen? Andernorts hätte man mich weggeschickt, nach Haus. Nun, wer sich keine unnötigen Gedanken darüber machte, was ich hier verloren hatte, wunderte sich eben nicht und schickte mich nicht fort. Am Ende würde ich aufstehen und dieses Lokal nie mehr betreten und bald vergessen sein.
Nachdem ich das Bistro verlassen hatte, tat ich das, wozu sich der neugierige Besucher einer unbekannten Großstadt leicht verführen läßt. Die Distanzen unterschätzend, ging ich so lange zu Fuß, bis ich völlig erschöpft war und
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