Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
so erzählte mir Roland später, blieb ganz ruhig, als sie am nächsten Tag feststellte, daß mein Zimmer leer war. Sie faltete den Brief, den ich auf das Kopfkissen des unberührten Betts gelegt hatte, auseinander und las ihn aufmerksam, ein Mal genügte. Sie zeigte Roland, was ich geschrieben hatte. Es war nicht nötig, sie zu beruhigen. Sie weinte nicht, sie neigte nicht zu Szenen. Worüber sie danach miteinander sprachen, entzieht sich meiner Kenntnis, aber ich bin sicher, daß sie keinen Augenblick erwogen, die Polizei zu benachrichtigen.
Ich packte meine Sachen in den unhandlichen Seesack aus weißem Kunststoff, den ich, zum Entsetzen meiner Mutter, vor Monaten bei einem Trödler erworben hatte. Als ich gegen acht Uhr, es war noch hell, das Haus verließ, saß der schwarze Nachbarskater vor der Haustür, leckte seine Pfoten und fuhr sich damit immer wieder über die Augen. Als ich die Türe schloß, blickte er kurz und desinteressiert zu mir hoch.
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III
Ich kam frühmorgens kurz nach sechs Uhr am Gare de l’Est an, stieg unausgeschlafen aus dem Zug und merkte erst am Ende des Bahnsteigs, daß ich mein Gepäck im Liegewagen vergessen hatte. Schlaftrunken lief ich zurück und stellte im Abteil fest, daß in einem der oberen Betten noch jemand schlief. Ich weckte den Mann auf und kassierte eine Verwünschung, die gut zu der abgestandenen Luft paßte, die sich zwischen den Hochbetten gestaut hatte. Ich verließ den Waggon mit meinem Reisesack, der am Boden entlangschleifte, und schwor mir, nie mehr mit einem Nachtzug und schon gar nicht im Liegewagen zu fahren. Meine unhandliche Reiseausrüstung, die ich weder bequem tragen noch mühelos schultern konnte, würde ich so rasch wie möglich durch eine praktischere Tasche, notfalls durch einen Koffer ersetzen.
Als ich aus dem Bahnhof auf den großen Vorplatz trat, von dem aus sich ein erster Blick auf Paris bot, schlug mir die frische Morgenluft entgegen. Ich überquerte die Straße. Überall waren Cafés geöffnet und Menschen unterwegs, ich nahm mir Zeit. Ich wußte nicht, wohin ich mich wenden sollte, schließlich besaß ich ja nicht einmal einen Stadtplan. Ich sagte mir, der beste Weg sei die belebteste Straße, die, die mich direkt ins Herz von Paris führen müßte. Aber welche der beiden Straßen, die vor mir lagen, war belebter, der Boulevard de Strasbourg oder – ich konntedie Straßenschilder lesen – die Rue du Faubourg St. Martin? Ich entschied mich für letztere.
Je weiter ich mich in der zügig aufhellenden Morgendämmerung vom Bahnhof entfernte, desto öfter schlug mir jene charakteristische Mischung an Gerüchen entgegen, die sich aus der nach Gummi und Metall riechenden Abluft der unterirdischen Métroschächte, aus Abgasen wartender und anfahrender Autos und dem streng riechenden Chlorwasser zusammensetzte, das vor den Lokalen, deren Böden gerade geschrubbt worden waren, ohne Rücksicht auf allfällige Passanten auf den Gehsteig geschüttet wurde, wo es die Gosse hinunterrann.
Natürlich rauchte ich an jenem Morgen nicht meine erste Zigarette, aber sicher die erste, die ich mir je vor dem Frühstück angezündet hatte. Zu Hause wäre mir das gar nicht in den Sinn gekommen. Hier schien es sich geradezu aufzudrängen. Nach zwei tiefen Zügen hatte ich das Gefühl, mich auf der Stelle hinsetzen zu müssen. Da aber weit und breit keine Bank zu sehen war, lehnte ich mich gegen eine Hauswand, atmete langsam und tief durch und schloß dabei die Augen. Die Zigarette, deren Rauch mir in die Nase stieg, warf ich nicht weg. Nach ein paar Sekunden fühlte ich mich besser und nahm einen weiteren Zug, um ein neues Schwindelgefühl herauszufordern. Es stellte sich nicht wieder ein. Es war der ungewohnten, befreienden Empfindung gewichen, mein eigener Herr zu sein. Ich war minderjährig, allein unterwegs und dies in einer Stadt, die ich nicht kannte und von deren Ausdehnung ich keine Ahnung hatte. Ich wußte nicht viel mehr, als daß sie riesig war und von einem weitgespannten Netz sich kreuzender Untergrundbahnen und Bahnhöfe durchzogen wurde. Es gab eine Kathedrale, berühmte Cafés, den Eiffelturm, die Seine und, wie ich schon sehen konnte, Menschen unterschiedlicher Hautfarben. Hatte ich je zuvor,außer im Kino, eine Asiatin oder einen Schwarzen gesehen?
War es das unmittelbare Erlebnis, in jener Stadt zu sein, in der sich auch mein Vater aufgehalten hatte, was das Gefühl von Unabhängigkeit noch steigerte? Meine Mutter und Roland reisten
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