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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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»Ist mein Vater nach Paris gefahren, um sich fotografieren zu lassen?« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich habe es vergessen. Es ist zu lange her.«
    Andréhatte den Kontakt zu meiner Mutter abgebrochen. Das war gewiß kein Zufall. Meine Mutter hatte vielleicht vergessen, daß sich der Stempel seines Ateliers auf der Rückseite des Fotos befand. Sie konnte unmöglich vergessen haben, wer das Foto gemacht hatte. Konnte es ihr tatsächlich entfallen sein, daß mein Vater nach Paris gefahren war, um sich fotografieren zu lassen? Wie oft hatte sie das Foto in den letzten Jahren abgestaubt, wenn sie mein Zimmer saubermachte? Ich hatte das Gefühl, aus Stein zu sein.
    »Und wenn wir uns dafür einsetzen, daß du dieselbe Uhr bekommst«, fragte sie. »Wenn wir dir dasselbe Modell besorgen, das müßte zu machen sein, dann –«
    »Wer ist wir?«
    Sie antwortete nicht. Warum versuchte sie, Roland in die Sache hineinzuziehen, und warum sagte ich nicht einfach nein? Roland hatte nichts damit zu tun. Meine Mutter hatte ihn erst lange nach dem Tod meines Vaters kennengelernt. Ich hatte den Eindruck, wir könnten nie mehr miteinander sprechen. Zwischen uns war etwas getreten, was wir beide nicht verstanden, weil wir es auf verschiedene Weise betrachteten. Jeder sah es mit anderen Augen. Es war so stark wie mein Vater, so unerträglich wie sein Tod, so unüberwindlich wie das Unverständnis für seine Tat, für das, was er uns, erst seiner Frau, dann mir, angetan hatte. Sie wußte mehr als ich, sie wußte alles, aber sie wollte ihre Erfahrung nicht mit mir teilen, oder sie konnte nicht. Ich konnte es ihr nicht verzeihen. Wer hätte das gekonnt, in meinem Alter?

    Noch am selben Nachmittag ging ich zur Bank, hob eintausend Franken ab, tauschte neunhundert in französische Francs und kaufte mir mit den restlichen hundert eine Fahrkarte nach Paris. Da das Sparbuch auf meinen Namenlautete, konnte ich frei über mein Erspartes verfügen, und so blieb dem Bankangestellten nichts anderes übrig, als mir das Geld kommentarlos auszuzahlen.
    Der erste Zug ging frühmorgens, doch ich würde den günstigeren Nachtzug nehmen. Wenn ich mich recht erinnere, erhielt ich für das abgehobene Geld etwa zweitausend Francs. So viel würde ich vermutlich gar nicht ausgeben. Das Geld, das ich von meinem Großvater erhalten hatte, verband mich mit meinem Vater. Hätte er noch gelebt, wäre es sein Geld gewesen, sie hätten es nicht seinem Sohn, sondern ihm selbst gegeben und es ihm überlassen, damit zu tun, was er für richtig hielt.
    Ich würde ohne Wissen meiner Mutter und meines Stiefvaters nach Paris fahren. Derselbe Zufall, der es wollte, daß ich mich für diesen Tag entschieden hatte, fügte es, daß Roland und meine Mutter erst spät von einer Einladung bei Freunden zurückkehren würden, bei denen stets ausgiebig gegessen und getrunken wurde. Der Alkohol und die Angewohnheit der Gastgeber, ihre Gäste nicht vor Mitternacht gehen zu lassen, würde für tiefen Schlaf und dafür sorgen, daß meine Abwesenheit frühestens am nächsten Morgen bemerkt werden würde, wenn ich nicht zum Frühstück erschien.
    Sollte ich André nicht an seiner alten Adresse aufspüren, würde es vor Ort gewiß einfacher sein, die neue ausfindig zu machen, davon war ich überzeugt, obwohl ich nie zuvor in einer Großstadt gewesen war, weder allein noch mit meinen Eltern. Wir besuchten Florenz, aber nicht Mailand, nicht Rom, sondern Terni, und immer wurde vor den Toren der Stadt geparkt.
    Ich sprach mit meiner Mutter also nicht über mein Vorhaben. Die Geheimhaltung war Teil meines – allerdings sehr vagen – Plans. Er bestand im wesentlichen darin, niemanden ins Vertrauen zu ziehen oder um Rat zu bitten. Ichverfolgte ein Ziel. Ich und mein Vater waren die einzigen, die dort ankommen würden.
    Da ich aber weder die Ängste meiner Eltern noch eine Polizeifahndung provozieren wollte, schrieb ich vor meiner Abreise, kurz nachdem sie um sieben das Haus verlassen hatten, einen kurzen Brief. Ich verständigte meine Mutter und Roland – diesmal bezog ich ihn mit ein –, daß ich pünktlich zum Schulbeginn in einer Woche zurück sein würde, wahrscheinlich früher. Ich erwähnte nicht, wohin ich fuhr, war aber fast sicher, daß meine Mutter es erraten würde. Wenn wir uns in diesem Augenblick auch nichts mehr zu sagen hatten, setzte ich doch ihr Verständnis für meine Handlungsweise voraus, egal, ob sie sie guthieß oder nicht. Ich sollte mich nicht täuschen. Meine Mutter,

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