Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
stimmte es, warum sollte meine Mutter mich belogen haben? Es gab nur einen Patenonkel, diesen da, der mich ansah, als ob er es zum ersten Mal hörte, und dann nickte und plötzlich etwas Verwelktesan sich hatte, wie Blätter, die an dürren Zweigen hingen.
»Ja, du hast recht, was immer du denkst. Ich habe mich nicht um dich gekümmert. Ich habe mich nie um dich gekümmert. Das war unverzeihlich. Unverzeihlich. Es wäre meine Pflicht gewesen. Aber wie es so kommt im Leben, die Zeit vergeht schnell, und man ist nicht frei von Fehlern, im Gegenteil, man ist voller Fehler, man macht ständig neue, wenn man nicht aufpaßt, es werden nicht weniger, sondern mehr. Immer mehr, mit jedem Atemzug. Aber was nützen die Vorwürfe und das schlechte Gewissen? Ich hätte handeln und telefonieren oder zumindest schreiben können. Was hätte mich das schon gekostet? Und jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als mich zu entschuldigen. Man redet sich heraus und kommt doch keinen Schritt voran. Ich habe oft daran gedacht, dir zu schreiben, und dann verging die Zeit, und dann habe ich immer seltener daran gedacht, die Wochen und Monate überstürzten sich, viel Arbeit, hier was, dort was, Persönliches, Berufliches, und ich sagte mir, was soll ich dich damit belasten, ein Kind geht seine eigenen Wege, den Rat alter Männer braucht es nicht.«
Er sah nicht besonders alt aus, aber ich hatte das unangenehme Gefühl, er wollte ein Kompliment hören. Ich ignorierte seine Bemerkung und sein ironisches Lächeln, er konnte nicht im Ernst von mir erwarten, daß ich in einem solchen Augenblick der Eitelkeit eines alternden Mannes schmeichelte. Ich hob die Tüte hoch und sagte zögernd: »Es ist nur das«, und es war unverkennbar, daß er neugierig auf das war, was ich ihm nun zeigen würde, vielleicht auch etwas irritiert.
»Ich habe nichts anderes«, sagte ich und zog den dicken Umschlag aus der Tüte und das gerahmte Foto aus dem Umschlag und legte es vorsichtig vor ihn auf den Tisch, unterden Amor auf dem springenden löwenmähnigen Fisch. Die Enttäuschung über das, was ich ihm zeigte, war ebenso augenfällig wie die Neugier es gewesen war. Er erinnerte sich an das Foto. »Ja, das habe ich damals gemacht«, sagte er, und irgendwie schaffte er es, so unbestimmt in die Runde der geschlossenen Türen zu blicken, daß ich nicht erraten konnte, in welchem der Zimmer es entstanden war.
»Es gehört zu einer ganzen Serie, die ich damals von ihm gemacht habe, kurz bevor er heiratete, wenn ich mich richtig erinnere. Du willst sie sicher sehen. Willst du sie haben?« Ich nickte. Natürlich wollte ich sie sehen. »Aber es wird eine Weile dauern, bis ich sie finde. Ich bin kein besonders ordentlicher Mensch, ich muß suchen, aber was ich suche, finde ich meistens.«
Er bot mir Kaffee an, und ich nickte. Er eilte voraus in die Küche und bat mich, ich möge mich setzen. Das Küchenfenster ging zur Straße. Er machte keine Konversation, während er an der orangefarbenen Kaffeemaschine herumhantierte, und auch ich unternahm nichts, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Er versuchte, sich entspannt zu geben, doch seine Anstrengung vermochte die Spannung nicht zu lösen. Vielleicht wäre er mich gerne losgeworden, der dasaß und nicht wußte, wohin mit seinen Beinen und Armen. Der Tisch war leer bis auf einen Kerzenleuchter, in dem eine halb heruntergebrannte, fast schwarze Kerze steckte.
»Und noch etwas«, sagte ich, als er gerade im Begriff war, die Küche zu verlassen, aber er hörte mich nicht mehr. Er hatte gesagt: »Ich komme gleich wieder«, und die Diele durchquert. Ich hörte, wie er eine Tür hinter sich schloß, dann die Stille, mitten in Paris wie in einer abgelegenen Kirche. Kirche und Gruft, das waren aus der Luft gegriffene Assoziationen. Kurz darauf begann heißes Wasser blubbernd durch die Kaffeemaschine zu laufen.Ich sah mich um, die große Küche wirkte keineswegs unordentlich. Nirgendwo ein Stück Brot, kein schmutziges Geschirr, keine Fettspritzer, alles sauber, aber in die Jahre gekommen, außer der neumodischen Kaffeemaschine, deren schreiende Farbe nicht zur übrigen Einrichtung paßte. Als hätte sie ein Fremder absichtlich in diese Umgebung gestellt, um deren Ausgewogenheit zu stören.
Ich saß am Küchentisch und fühlte mich fehl am Platz. Das Recht, hier zu sein, hatte ich mir zwar nicht erschlichen, sondern rechtmäßig dadurch erworben, daß ich der Sohn von Emil war, aber wie ich weiter darauf beharren sollte, wußte
Weitere Kostenlose Bücher