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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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wenigen Minuten getragen hatte, hatte ich in die Hosentasche gesteckt. Die Uhr, auf die ich mir damals so viel eingebildet hatte, war wertlos geworden.
    Ichhatte keinen Grund, mir etwas auf meinen Erfolg einzubilden. André hatte mir das, was mir zustand, nicht einmal andeutungsweise verweigert. Obwohl sie ihm offenbar nichts bedeutete, hatte er sie, anders als die Fotos, an einem Ort aufbewahrt, der sich ihm eingeprägt hatte, jedenfalls konnte er sie schon nach wenigen Minuten vor mich auf den Küchentisch legen.
    Er hatte gesagt, er wisse nicht, ob sie noch funktioniere. Er habe sie nie getragen, er trage niemals eine Uhr, Uhren machten ihn nervös, selbst wenn ihr Ticken nicht zu hören sei. Daß André sie nie getragen hatte, hörte ich mit Befriedigung. Mein Vater hatte sie als letzter getragen, niemand sonst hatte sie in den letzten siebzehn Jahren jemals aufgezogen.
    Ich hatte die Hand danach ausgestreckt und sie genommen.
    Sie war kleiner, dünner und leichter, als sie es in meiner Vorstellung aufgrund des Fotos gewesen war. Die Handgelenke meines Vaters mußten zart gewesen sein, denn auf dem Porträt wirkte sie schwerer. Da es sich um eine Automatik handelte, begann ich sie langsam hin und her zu bewegen, doch das Uhrwerk lief erst, nachdem ich den Handaufzug betätigt hatte.
    »Louis Armstrong«, hatte André gesagt, »hat seinerzeit Werbung für diese Uhr gemacht. Ich erinnere mich. Das muß kurz nach dem Tod deines Vaters gewesen sein, Anfang der 50er Jahre. Die Plakate hingen in allen Métrostationen. Louis mit seiner Trompete, und jedesmal, wenn ich die Werbung sah, dachte ich an Emil und an die Uhr, die in meiner Schublade lag. Ich konnte sie nicht tragen. Es war seine Uhr, und jetzt ist es selbstverständlich deine. Deine Mutter hätte sie mir damals nicht geben dürfen, aber sie war so durcheinander. So traurig und entsetzt. Wir haben damals kaum ein Wort gewechselt. Es hat sie hartgetroffen. Er war so begabt. Es hätte so vieles aus ihm werden können. So viele Talente verschleudert. Quel gâchis! «
    Ich habe dieses unbekannte Wort, das ich in Paris nicht verstand, dessen Sinn ich nur erraten konnte, das ich mir aber merkte, zu Hause nachgeschlagen, es konnte viel bedeuten, von Matsch über Schlamassel bis Verschwendung. Um so besser, daß ich es nicht verstand und daß es nicht eindeutig war. Ein Verschwender.
    Ich hielt die Seamaster an mein rechtes Ohr. Sie tickte hastig, leise und beharrlich, zum ersten Mal seit siebzehn Jahren. Wie viele Tage hatte sie nach seinem Tod noch getickt, wann war sie abgelaufen, wer hatte sie ihm abgenommen? Meine Mutter? Jemand vom Bestattungsinstitut, mein Großvater? Und wo? Mein Vorrat an Fragen war noch lange nicht erschöpft. Ich kannte noch nicht einmal seine Todesanzeige. Ich würde sie suchen und finden.
    Obwohl zwischen mir und André für Momente so etwas wie ein verminderter Einklang bestanden hatte, etwas, was man vor Gericht einen unverhofften Vergleich nennen würde, war ein weiterer Schritt zurück in Andrés und Emils gemeinsame Vergangenheit nicht möglich gewesen. Wir konnten, jedenfalls in diesem Augenblick, darüber nicht sprechen.
    Das braune Armband war trocken und spröde, und an manchen Stellen zeigten sich Risse. Das Leder hatte seine Geschmeidigkeit eingebüßt. Ihm fehlte seit Jahren die Haut und der Schweiß eines Menschen, der es elastisch erhalten hätte. Anders als die Zeit, die sich im Uhrwerk verbarg, hatten die Jahre, in denen es unangetastet in einer Schublade oder einem Schrank gelegen hatte, ihre Spuren hinterlassen. Das Stahlgehäuse legte sich auf mein linkes Handgelenk, ich zog das Armband fest.
    »Sieist sicher wertvoll«, sagte André.
    »Nein. Das glaube ich nicht. Davon wurden unzählige Exemplare hergestellt«, sagte ich. Es entging mir nicht, daß er meine Bemerkung falsch auffaßte. Glaubte er tatsächlich, ich hielte sie für kostbar und wollte ihm vortäuschen, sie sei wertlos? »Sie war damals nicht sehr teuer, und sie ist es heute nicht.«
    »Auch wenn sie wertvoll wäre …«
    »Sie ist es jedenfalls für mich«, sagte ich. »Sie haben jetzt sicher zu tun, und ich muß weiter.« Ich hatte nichts zu tun, aber Andrés Gegenwart war mir nicht angenehm, und ich wollte ihm nicht lästig werden. »Ich will nicht weiter stören«, sagte ich und stand auf.
    Auf seine Bitte hin hatte ich ihm den Namen meines Hotels genannt, den er sich nicht notierte und vermutlich gleich vergaß. Der Abschied war kurz, aber nicht

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