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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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ich.
    Als ich gegen Mittag das Hotel verließ, löste sich ein unbekannter junger Mann aus dem Schatten der Eingangstür und wandte sich an mich. Ob ich Emils Sohn sei. Er hatte offenbar auf mich gewartet und schien mich, trotz seiner Frage, zu kennen. Erstaunt blickte ich ihn an und nickte. Ich glaubte, die Stimme schon gehört zu haben. War er der Begleiter, mit dem ich in der ersten Nacht durch Paris gezogen war, an dessen Gesicht ich mich aber nicht erinnerte?
    Er zog einen zerknitterten Umschlag aus seiner Jeans und reichte ihn mir. Als ich danach griff, bemerkte ich, daß er an beiden Zeigefingern Ringe trug. Er strich sich die schwarzen Locken aus dem blassen Gesicht.
    »Von André«, sagte er gedehnt. »Er hat mich geschickt. Er entschuldigt sich, er hat heute viel Arbeit, er konnte nicht kommen. Ich wohne hier in der Nähe, deshalb beauftragte er mich. Ich bin ein Freund von André.«
    Daher also kannte ich die Stimme. Sie gehörte zu einem der beiden Männer, die in Andrés Wohnung in der Rue Blanche ein und aus gingen, dort hatte ich sie gestern gehört. Er sah mich neugierig an.
    »Sie sind Schweizer«, sagte er, ich nickte, und er fügte lachendhinzu: »Sie sind der erste, der mir über den Weg läuft. Ich bin bis heute noch keinem begegnet.« Er streckte seine Hand aus und legte sie mir auf den Arm.
    »Ich bin einer von Andrés Freunden«, sagte er. »Ich heiße Benjamin. Er hat mir von deinem Vater erzählt. Sollen wir einen Kaffee trinken?«
    »Was hat er erzählt?« Mir war nicht entgangen, daß er übergangslos vom Sie zum Du gewechselt war.
    »Dies und jenes hat er erzählt.«
    Ich hatte das Gefühl, daß er übertrieb oder mehr wußte als ich selbst, was, wie ich fand, noch unerträglicher war. Mein Vater konnte ihm herzlich egal sein, mein Vater ging ihn nichts an.
    »André sagt, hier findest du ein paar Antworten.« Er deutete auf den Umschlag, den er mir übergeben hatte. »Wir duzen uns, ist doch in Ordnung, oder? Wie alt bist du?«
    »Siebzehn.«
    »Und ich bin einundzwanzig. Weit auseinander sind wir also nicht.«
    Ich nickte und fragte mich, was an André so interessant sein mochte, daß er so junge Freunde hatte wie diesen Benjamin.
    »Ich kenne ein Lokal gleich gegenüber. Dort trinken wir Freundschaft«, sagte er lachend. »Ach was, einen Kaffee!«
    Doch seine Ausgelassenheit wirkte auf mich nicht ansteckend, sondern einschüchternd. Was wollte er von mir, nachdem sein Auftrag erfüllt war? Er deutete in Richtung Hotel de Ville und ging schon voraus. Brav wie ein Hündchen folgte ich ihm. Während wir gingen, unterhielten wir uns nicht. Wir betraten das verrauchte Lokal, doch anders, als ich es getan hätte, wäre ich allein gewesen, setzte ich mich mit Benjamin in den hinteren Teil, dort wo es am dunkelsten, die Musik am lautesten und die Luft am dickstenwar. Es roch nach Bratfett und Zigaretten. Man schaute auf und grüßte ihn, hier war er offenbar zu Hause. Die Bedienung, ein junges Mädchen mit Pagenschnitt und einer operierten, gerade noch erkennbaren Hasenscharte, nahm die Bestellung auf, zwei Kaffee.
    » Ton père était tout a fait okay, il était bien, tu sais« , sagte er unvermittelt, und ich versuchte, diesen einfachen Satz zu verstehen, der wie alle Sätze, die wir bisher getauscht hatten und in der folgenden halben Stunde noch tauschen würden, auf französisch erfolgte: »Dein Vater war schon okay.«
    Das hatte er gesagt, aber so einfach das klang, ich verstand nicht, was das heißen sollte. Was darauf folgte, war kaum verständlicher, und deshalb bat ich ihn, es zu wiederholen.
    »Es waren die Umstände. Die Umstände damals.«
    Als ich ihn immer noch fragend anstarrte, erklärte er: »Ich meine, ich bin überzeugt, er war ein Opfer der Umstände. Es war die falsche Zeit. Man kann die Zeit nicht ändern.«
    Ich begriff nicht, was er damit meinte. Aber ich wollte nicht, daß er es mir wie einem begriffsstutzigen Schuljungen erklärte. Hinter jedem Satz lauerte irgend etwas, was ich offenbar nicht kapierte. Es war, als verzehnfachten sich die Mißverständnisse in einem Spiegel, in dem sich Spiegel um Spiegel widerspiegelte. Welche Umstände mochte er meinen, was meinte er überhaupt?
    Es dauerte nicht lange, und auch der Junge mit den schwarzen Locken begann zu begreifen, wie wenig ich selbst begriff. »T’es gentil, t’es sympa, tu sais, ça m’plaît, ton air, ton air de naïf, c’est sympa, vraiment, c’est tout à fai t –«
    Ich schlug die Hand, die sich

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