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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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ich nicht. Worauf beharren? Es gab kein Gesetz, das irgend jemanden dazu verpflichtete, mir die Wahrheit zu sagen.
    Keine Ahnung, wann und wo ich mich unbehaglicher fühlte, in Andrés Gegenwart oder jetzt, da ich allein in der Küche saß. Einen Augenblick, nicht länger, stellte ich mir vor, meine Mutter säße neben mir. Sie hätte die richtigen Fragen gekannt und gestellt. Dann sagte ich mir, sie bräuchte keine Fragen zu stellen, denn sie wußte ja alles. Der Gedanke an sie verließ mich so, wie er gekommen war, er zeigte keine Wirkung. Ich war ratlos.
    Die Distanz zwischen mir und André schien sich in seiner Abwesenheit noch zu vergrößern. Zwischen uns lagen nicht nur die Diele und sein Atelier oder Büro, sondern auch die Jahre, die seit dem Selbstmord meines Vaters vergangen waren. Sie markierten die eigentliche Entfernung, sie waren das Grab, in dem er lag.
    Das Wasser lief durch den Filter der Kaffeemaschine, und ein säuerlicher Geruch begann die Küche zu erfüllen. Gewiß bereute André inzwischen, mich hereingelassen zu haben.
    Als ich aus dem Fenster blickte, sah ich, daß es immer noch regnete. Ich hatte Zeit, mich umzusehen und zu überlegen,wer hier den Haushalt führte. Es gab keine Anzeichen weiblicher Präsenz, keine Schürze, keine Gummihandschuhe, nicht einmal eine Spülbürste, bloß einen alten Schwamm und ein halbes Dutzend Geschirr- und Handtücher an verschiedenen Haken. Die Spüle war breit und tief, der Wasserhahn ein altmodisches Ungetüm aus verschlungenen Rohren. Groß war auch der bauchige Kühlschrank, auf dem der Herstellername Arthur Martin zu lesen war. Ich war versucht, aufzustehen und ihn zu öffnen.
    Dann aber drehte sich ein Schlüssel im Schloß der Wohnungstür, die Tür wurde aufgestoßen, und eine jugendlich wirkende Stimme rief Andrés Namen. Als ich mich auf dem Küchenstuhl umwendete, war der Besucher bereits aus meinem Blickfeld verschwunden. André antwortete nicht, ich stand nicht auf, das ging mich nichts an. Noch einmal »André!«, und dann zischte eine zweite Stimme irgend etwas, was ich nicht verstand. Entweder war hinter dem einen ein zweiter Besucher eingetreten, oder jemand, der sich bereits in der Wohnung befunden hatte, begrüßte ihn jetzt. Ich hörte einen kurzen Wortwechsel, zu weit entfernt, um etwas zu verstehen. Während ich in der Küche warten mußte, hatten die beiden Neuankömmlinge freien Zutritt zur Wohnung. Dampf trat aus dem Kaffeeautomaten. Sie fühlten sich hier offenbar zu Hause. Ich hatte keine Lust auf Kaffee.
    Kurz darauf betrat André erneut die Küche. Er hatte die Fotos nicht gefunden, versprach aber, sie mir zu schicken, sobald sie wieder auftauchten.
    »Ich werde sie finden, und dann kannst du sie natürlich behalten.«
    »Die Fotos sind mir nicht so wichtig«, sagte ich. »Ich bin nicht deshalb hergekommen. Ich will die Uhr meines Vaters zurückhaben.«
    Er sah mich verständnislos an.
    »Welche Uhr?«
    »Die Seamaster , die meine Mutter Ihnen damals gegeben hat. Die Uhr, die er auf dem Foto trägt.«
    Er hatte Mühe, sich zu erinnern, aber schließlich fiel es ihm ein: »Natürlich, natürlich, seine Uhr«, sagte er, »die Uhr, die er fast immer trug. Die willst du haben?«
    »Ja«, sagte ich.
    »Natürlich«, sagte er und stand auf. »Deine Mutter hat sie mir damals beinahe aufgedrängt, als wollte sie sie nicht mehr sehen.«

    Nachdem das schwere Tor hinter mir ins Schloß gefallen war, begann sich der kalte Gegenstand an meinem Handgelenk allmählich zu erwärmen. Am Ende der Rue Blanche spürte ich die Uhr kaum noch. Wenn ich sie auch nicht spürte, so war ich mir doch jederzeit bewußt, daß ich sie auf mir trug und sie nun endlich mir gehörte. Ich und kein anderer war der rechtmäßige Besitzer. Mir und keinem anderen gehörte die Uhr. André hatte keinen Augenblick gezögert, sie mir auszuhändigen.
    Doch ich vermied es, sie zu oft und zu eingehend zu betrachten, als ob ich fürchten müßte, sie könnte durch meine Blicke an Gewicht oder Wert verlieren oder zerbrechen. Sie trug sich leicht, war schmal und schlicht, ich fand sie unwiderstehlich. Sie zu tragen erinnerte mich an das Gefühl, das ich empfunden hatte, als ich im Alter von sieben Jahren meine erste Uhr geschenkt bekommen hatte, ein etwas lächerlicher, aber nicht zu unterdrückender Stolz auf ein Gut, das mir zustand, weil ich die Uhrzeit lesen konnte, ein erster Beweis und eine Auszeichnung dafür, daß ich erwachsen wurde. Diese Uhr, die ich bis vor

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