Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
Katze sonst noch im Eisschrank befunden hatte. Das aber, so glaubte ich in diesem Augenblick, wäre wichtig gewesen. Dochsosehr ich mich anstrengte, ich sah nichts anderes als die Katze. Ich glaubte in meinem Hotelzimmer einen Geruch wahrzunehmen, der dem in meinem Traum ähnelte, vielleicht kam er aus dem Abfluß des Waschbeckens, vielleicht von draußen, vielleicht war etwas undicht. So erklärte sich vielleicht die unangenehme Umgebung, in der mein Traum sich abgespielt hatte.
Ich machte Licht. Ich wollte mich an den Tisch setzen und einen Katalog all der Fragen zusammenstellen, die sich mir bezüglich meines Vaters in den letzten Tagen gestellt hatten, um mich abzulenken. Statt dessen schlief ich wieder ein. Als ich morgens aufwachte, brannte die Nachttischlampe noch. Ich hatte den Rest der Nacht traumlos verbracht, doch das Gefühl der Ratlosigkeit verließ mich nicht. Die Bilder des Traums hatte ich ganz deutlich vor mir. Damals wie heute ließen sie mich hilflos zurück. Sie deuten zu lassen, sah ich keine Veranlassung, weder damals noch später. Meine Arbeit als Gerichtsschreiber hat meine Achtung vor der Kompetenz von Psychologen – vor dieser, nicht vor ihnen persönlich – nicht sonderlich befördert.
Ich beschloß, noch einen Tag zu bleiben. Als ich auf meine neue Uhr blickte, bemerkte ich, daß sie mitten in der Nacht, um Viertel nach drei, stehengeblieben war, etwa zu der Zeit also, da ich geträumt hatte.
Ich versuchte mir vorzustellen, der Arm, den sie umschloß, sei nicht meiner, sondern der meines Vaters. Doch es gelang mir nicht. Ich nahm sie vom Handgelenk und wollte sie aufziehen, aber die Feder war bis zum Anschlag gespannt. Irgend etwas hinderte sie daran, die Uhr anzutreiben. Sie mußte revidiert werden. Sobald ich zu Hause war, würde ich sie zu Rentsch bringen.
Ich hielt das Lederband an meine Nase. Und tatsächlich glaubte ich für einige Sekundenbruchteile ein unbekanntesParfum zu riechen. War es das alte Leder, oder war es Politur, die ins Innere von Andrés Schublade gedrungen war, oder Rauch, der in seinem Zimmer gehangen hatte? Als hätte ich den Geruch, der sich über die Jahrzehnte konzentriert hatte, mit einem Atemzug in mich aufgenommen, verflüchtigte er sich augenblicklich. Er war verlockend auf mich zugekommen und dann verschwunden. Für einen Augenblick hatte ich meinen Vater gerochen.
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V
Hatte ich mir eigentlich jemals ernsthaft überlegt, weshalb mein Vater sich getötet hatte, ich meine in Bildern, nicht einfach als abstrakte Aussage? War in meinen Augen aus seinem frühen Tod nicht längst eine Krankheit geworden, an der jeder sterben konnte, wenn es einmal soweit war? Es so zu sehen war beruhigender als die Vorstellung eines realen Vorgangs. Es war bequemer als die Tatsache, der Sohn eines Selbstmörders zu sein. Hatte ich unter der pädagogisch versierten Anleitung meiner Mutter nicht ihre eigene Haltung übernommen, eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod meines Vaters, die ihn körper- und seelenlos machte? Weil es sich nach all den Jahren so gehörte, weil man nicht ewig jammern, bedauern und anklagen konnte. Weil nichts von Dauer sein kann, nicht einmal die Trauer über einen unwiederbringlichen Verlust. War es mir nicht lange Zeit wie jenen Adoptivkindern ergangen, die nicht wußten, daß man sie wie Kuckuckseier in die Nester gastfreundlicher Wirtseltern gelegt hatte? Erlebte ich jetzt dasselbe wie jene Unglücklichen, die eines Tages zufällig die Wahrheit erfuhren?
Tatsächlich hatte ich mir nie ernsthaft überlegt, wie es dazu gekommen war, daß mein Vater nur diesen Ausweg sah. Auch nicht, wie sein schockierend kurzes Leben vor und nach der Hochzeit verlaufen war. In meinen Augen hatte sich sein Tod heimtückisch wie eine bösartige Krankheit aus dem Nichts angeschlichen, zu früh und unausweichlichwie das Schicksal. Ich war ihm gegenüber gleichgültig gewesen, als betreffe es mich nicht. Meine Mutter hatte es darauf angelegt, und ich konnte ihr daraus keinen Vorwurf machen. Und nun erging es mir ähnlich wie dem vierzehnjährigen Mädchen aus meiner Klasse, das eines Tages von zu Hause weggelaufen war, nachdem eine Freundin der Mutter ihr beiläufig erzählt hatte, wer sie war beziehungsweise wer nicht, auf keinen Fall die Tochter ihrer Eltern. Als Erwachsene kehrte das Mädchen nach Jahren der völligen Abkehr in den Schoß der Familie zurück. Ob sie dort je wieder glücklich wurde, wie sie es gewesen war, als sie nichts wußte, bezweifle
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