Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
keiner von beiden hatte eine Nachricht hinterlassen. Die Sache war erledigt, Benjamin hatte seinen Nervenkitzel gehabt, André sein Gewissen erleichtert. Und dennoch tat ich nicht, was ich mir am letzten Abend vorgenommen hatte, ich mühte mich nicht mit meinem schweren Seesack zur Métrostation und fuhr nicht zum Gare de l’Est, um den Zug nach Hause zu nehmen. Ich hatte mich entschieden, einen weiteren Tag in Paris zu bleiben. Ich wollte André noch einmal sprechen. Ich würde ihn ein weiteres Mal aufsuchen, doch diesmal würde ich ihm ein paar Fragen stellen.
Es waren sieben Karten, die er zwischen dem 2. und 14. November 1948 an André Gros’ französische Adresse geschickt hatte. Offensichtlich lebte André mit seinen Eltern, die Emil einmal grüßen ließ, bereits wieder in Paris. Die mit einer millimeterdünnen Füllfeder in Blockschrift geschriebenenZeilen waren weniger leicht zu entziffern, als es zunächst den Anschein hatte. Aber es gelang mir. Jede Karte begann unterschiedslos mit: »Lieber A.« und endete mit: »Gruss E.« Die wenigen anderen Personennamen waren ausgeschrieben. Jede Karte war am oberen rechten Rand mit Ort und Datum versehen. K., der Ort, von dem aus er geschrieben hatte, war mir unbekannt. Die Karten waren entweder in K. oder Zug abgestempelt worden. Ich schloß daraus, daß K. sich in der Nähe von Zug befinden mußte. Tatsächlich liegt der kleine Ort, wie ich später herausfand, als ich auf einer Landkarte danach suchte, zwischen dem Zuger- und dem Zürchersee und gehört zum Kanton Zürich. Da man im Postamt von K. offenbar nicht täglich gearbeitet hatte, war der Postbote, der die Briefkästen leerte, möglicherweise an manchen Tagen genötigt gewesen, die Karten anderswo weiterbefördern zu lassen. Nur so konnte ich mir die abweichenden Stempel erklären.
E.s Sätze waren kurz, setzten sich oft aus weniger als sechs Wörtern zusammen, waren eher Hinweis als Auskunft, wirkten kurzatmig und waren flüchtig ausgeführt, als sei der Schreiber erschöpft oder gehetzt oder beides zugleich gewesen. Es gab eine Menge Bindestriche und Auslassungspünktchen, E. hatte offenkundig mit dem Einfühlungsvermögen des Empfängers gerechnet. Egal, was er ausließ, er hatte sich darauf verlassen können, daß A. stets erriet, was er meinte. Sie kannten sich wohl wie Brüder. Ich mußte mit André darüber sprechen.
Ein paar Schreibfehler wiesen eher auf einen vorübergehenden Mangel an Konzentration hin als auf ungenügende Orthographiekenntnisse. Die meisten Karten waren einwandfrei, jene mit Fehlern etwas befremdlich, ohne deshalb aus dem Rahmen zu fallen. War das auf die Wirkung der Medikamente zurückzuführen, die man ihm in der Klinikvon K. zweifellos verabreicht hatte? Ich mußte André sprechen. Es kam mir vor, als ob Emil viel Zeit auf diese Zeilen verwandt hätte, doch hätte ich nicht sagen können, woher dieser Eindruck – trotz der Kürze der einzelnen Karten – rührte. Was sich stets gleich blieb, war die Schrift. Ihre Gleichmäßigkeit konnte offenbar durch nichts erschüttert werden. Schwarze Tinte. Ein Buchstabe unterschiedslos so hoch und so breit wie der andere, als sei am oberen und unteren Rand der Buchstaben eine unsichtbare Linie gezogen worden, die bei Strafe niemals über- noch unterschritten werden durfte. Es gab keine Abweichung von der Regel. Das Ebenmaß der Buchstaben schien einen Wall gegen das zu bilden, was sich im Inneren des Schreibenden vollzog.
Er hatte in jenen Tagen vieles, was ihn beschäftigte, auf wenig Raum zusammendrängen müssen, vielleicht, weil den Insassen das Schreiben nicht erlaubt war, weil sie isoliert wurden, weil ihnen der Kontakt nach außen verboten war, weil man es für hilfreich hielt, sie so lange abzusondern, bis sie wieder gesund waren. Hatte er die Karten heimlich geschrieben? Ich fand keinen Hinweis, der diesen Verdacht bestätigte. André mußte es wissen, ich mußte ihn fragen. Ich wußte nichts über den Alltag in einer Nervenklinik, ich hatte mich nie mit Therapien beschäftigt. Elektroschock, Insulin- und Schlafkur waren Begriffe aus einer Welt, mit der ich nie in Berührung gekommen war. Die Frage, ob mein Vater verrückt gewesen sei, kam nicht ganz überraschend, und dennoch war es nicht leicht, sie zu akzeptieren.
Krank, verrückt, selbstmordgefährdet? Verrückt war eine Bezeichnung, die auf nichts zutraf, was ich kannte oder womit ich mich bisher beschäftigt hatte. Aus welchem anderen Grund hätte er sich sonst in
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