Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
jetzt bin ich hier hinter Mauern. – Das hält einen auf. Vielleicht ist es aber besser so. Nicht? Aufhalten ist gut und gesund. Gruss … E.
Er schrieb am 4. November 1948:
Lieber A. Heute zum ersten mal Zeitung. Neuer amerik. Präsident Truman. Draußen ist es wärmer geworden. Sie wolen, das ich ausgehe, an die frische Luft. Einer hat es geschafft, vorgestern. Hat es geschafft. Gruss E.
Erschrieb am 6. November 1948:
Lieber A. Heute Samstag. Kopfmerzen. Föhn. Schlechte Laune. Weis nichts, hör nichts. Schreib mir. Gruss E.
Er schrieb am 8. November 1948:
Lieber A. War auf der Jagd, so wollte es der Professor. Er ist gross und schwerfällig – ausser auf dem Pferd. Da hat er Allüre. Ja, er hat ein Pferd. Wir waren Treiber. Wir mussten das Wild aufscheuchen, freiwillig taten wir’s. War lustig … wir waren fast zwanzig, dazu vier Hunde, die dem Doktor und seinen Kumpeln gehören. Das sind Militärfreundschaften, sagt er, die halten fürs Leben. Die Hunde hatten die Nase in der Witterung, wir folgten. Wir mussten laufen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Und dann das Wild. Wildschweine und Rehe. Wir haben diverses Wild aufgescheucht. Und sie haben diverses geschossen. Das meiste geht an die Metzgereien und Gaststätten, aber auch für die Anstalt wirft die Jagd ab. Er schreibt Gedichte, aber keine Jagdgedichte. Ein komischer Mann. Hatte letzte Woche ein Gespräch. Er sagt: Schlag es dir aus dem Kopf. Denk nicht daran. Dann lacht er und sagt: »Als mein Treiber bist Du gut.« Und dann lacht er wieder. Ich verstehe ihn nicht. Er sagt: »Schreib Gedichte, wie ich. Den Rest besorgt das Leben«. Ich verstehe ihn nicht, und er versteht mich nicht. Schlafkur, sagt er, aber nur notfalls. Halbklarer, kalter Himmel, gut für die Jagd. Evipan und Medinal … Gruss E.
Erschrieb am 10. November 1948:
Lieber A. Kann ihn bald auswendig, Wer reitet so spät durch Nacht und Wind, es ist der Vater usw. der Mann heisst Karl, raucht und stinkt nach alten Zigaretten. War Knecht auf einem Hof in der Innerschweiz. Raucht und stinkt. Stinkt und raucht. Hat aber eine Stimme und kann den ganzen Erlkönig auswendig. Nur Text oder Schubert. Den ganzen Tag hören wir den Erlkönig. Nachts ist er still. So still, dass man denkt, er sei tot. Dann am Morgen wieder: In seinen Armen das Kind war tot. Manchmal sagt er rot, manchmal Boot, manchmal Lot, manchmal Kot. Aber er lacht. Aber er lacht jedesmal. Wer reitet so spät …, immer wieder, tagein, tagaus. Sonst spricht er nicht mit mir, kein Wort. Überhaupt mit niemandem. Nur sein Erlkönig. – Der Professor, unser Dichter und Jäger sagt: Unser Goethe. Regnerisch. Wie ist es bei dir? Gruss E. (möchte fort.)
Er schrieb am 12. November 1948:
Lieber A. Manchmal Sensucht, manchmal nicht. Manchmal freieit wollen, manchmal egal … dann wieder so und so. Aufhelungen. Nur nicht innen. Furchbar müde. Denkst du, ich bin irre? Schlafe lang und wie bewusstlos. Tut mir leid. Gruss E. auch an deine Mutter.
Erschrieb am 14. November 1948:
Lieber A. Kennst du Umberto Giordano, las, er sei gestorben. Nie gehört. Dachte Tenor – nein … ein italienischer Komponist. Wir haben hier täglich dreimal die Zeitung. In einer Woche bin ich draussen, sagt der Professor. Hatte heute morgen Konsultation. Medinal. Er hält nichts von meinen Plänen. Er hält sie für pubertär. Hirngespinste. Ich soll die Matur machen und dann weiterschauen. Er will damit sagen zur Vernunft kommen … wie er selber, sagte er. Erst Studium, dann träumen. Erst Brot, dann Kunst. Erst dies, dann das. Übernächste Woche bin ich wieder zuhause. Fragt man nach mir? Was soll ich sagen, wenn mich die anderen fragen? Soll ich erzählen, ich sei krank gewesen. In Davos? Wäre wohl das beste. Heute neblig. Immer wieder neblig. Gruss E. aus Zermatt am Fuss des Himalaya.
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VI
Am 22. November 1948 wurde Emil aus der Klinik entlassen. Vor dem Tor, das sich schwer, aber fast lautlos hinter ihm schloß, warteten die Eltern. Sie standen nebeneinander und suchten nach Worten.
Hans Ott brummte irgend etwas, seiner Frau Irene standen Tränen in den Augen. Sie machte keine Anstalten, sie zu unterdrücken oder zu verbergen, das Taschentuch in ihrer Faust blieb unbenutzt. Sie weinte leicht.
Sie trug einen buckeligen grünen Hut, der offenbar ganz neu war. Farben trug sie selten, Schwarz und Weiß paßten besser zu ihr, meinte Hans. Ihr Anblick versetzte Emil einen Stich. Was mochte sie sich bei der Wahl dieser
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