Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
Farbe bloß gedacht haben? Grün zu Rosa. Weiß waren heute nur die breite Krempe des Huts und ihre Strümpfe. Sie, die sich lieber ein Wort versagte, als sich der Lächerlichkeit auszusetzen, hatte sich bei ihrer Wahl völlig vergriffen, und sein Vater hatte es nicht für nötig befunden, sie darauf hinzuweisen, oder das Unpassende war ihm entgangen.
Emil setzte seinen Koffer ab. Sie traten auf ihn zu, der Vater gab ihm die Hand, ohne den Hut abzunehmen, der seine Glatze bedeckte, die Mutter küßte ihn auf die Wangen, bevor er sich ihr mit einer unbeherrschten Bewegung entzog. Sie machte einen unbeholfenen Schritt zurück, Emil bereute seine Ruppigkeit, der Vater wendete sich zum Wagen. Kein Wort war gefallen.
DieWut, die er beim Anblick seiner Eltern empfand, war noch da. Auch die konturlose Verheißung, die stets wie eine Fluchtbewegung war, die nirgendwohin führte, wenn er sich vorzustellen versuchte, sie wären nicht seine Eltern, sondern Fremde. Die Verheißung war nur Luft. Sie waren nun mal da, man konnte sie nicht wegzaubern. Er konnte seine Gefühle weder bezwingen noch einschätzen. Zu spät. Er konnte seine Mutter nicht bitten, ihn noch einmal zu umarmen, damit er sie anders begrüßen konnte. Damit sie nicht so ängstlich schaute.
Nein, außer dem Wetter hatte sich nichts verändert. Draußen war alles gleich wie an dem Tag, als er mit seinem Vater hier angekommen war. Drei Wochen waren vergangen. Was er damals nicht beachtet hatte, sah er auch heute nicht. Emil lachte.
»Was ist«, fragte der Vater.
Emil antwortete mit einem Achselzucken. Die Mutter schwieg. Ihre Tränen waren versiegt. Sie stand abseits und wartete, was entschieden würde. Sie selbst würde nichts entscheiden.
Es war gleich zwölf, jetzt setzten sich drinnen jene zu Tisch, die hungrig waren. Sein anfängliches Entsetzen über die anderen Patienten war einem Gefühl der Zusammengehörigkeit gewichen, wenngleich er ihr Verständnis weder gesucht noch gefunden hatte. Die Tür der Klinik war zugefallen. Klick. Emil trat vom Kiesweg ins Gras. Es war feucht und reichte ihm bis zu den Knöcheln, und die Erde gab unter seinen Füßen unmerklich nach. Matsch. Die Luft war von Schimmel- und Pilzgerüchen erfüllt. Es hatte in den letzten Tagen viel geregnet, und wenn es nicht geregnet hatte, war der Nebel aus Wiesen und Äckern gestiegen und hatte sich stundenlang darüber gehalten. Es gab dort drinnen keinen Gleichgesinnten. Keiner würde ihn vermissen. Er sah auf seine Uhr. Eine Minute vor zwölf.
»Paßauf deine Schuhe auf, es ist so naß«, sagte die Mutter. »Sind es meine oder deine Füße?«
Sie hätte ihm antworten müssen, er sei kalt, affektiert, undankbar oder gemein, und der Vater hätte sagen können, er solle netter zu seiner Mutter sein, aber keiner reagierte. Als ob sie fürchteten, etwas Falsches zu sagen, was eine neue Krankheit auslösen könnte, die unheilbar wäre. Sie faßten ihn also mit Samthandschuhen an. Darauf war er nicht aus gewesen, und damit hatte er nicht gerechnet.
Kummervoll blickte die Mutter unter dem Rand des lächerlichen grünen Huts hervor. Emil hatte Verständnis für die, die sich da drinnen eine Gabel in den Arm oder ein Hölzchen unters Nagelbett trieben, um des Schmerzes auf irgendeine Weise Herr zu werden. Am Ende, das wußte er nun auch, war alles halb so schlimm. Man wußte nie, wie ernst es gemeint war, beim einen mehr, beim anderen weniger.
Die Hände tief in den Taschen vergraben, betrachtete er seine Mutter von der Seite. Irene Ott blickte besorgt und hilflos. Ein Ausdruck, den Emil nur zu gut kannte. Ihn genauer zu deuten, fiel ihm allerdings schwer. Er glaubte in ihrer Miene die Frage zu lesen: Ist das mein Sohn? Und zugleich die Antwort: Oh ja, das ist mein Sohn.
»Laßt uns nach Hause fahren«, sagte sie und stieg in den schwarzen Lancia Ardea, den ihr Mann seit dem Frühjahr besaß. Es war damals sein dritter Wagen, sein zweiter Lancia. In diesem Wagen war Emil mit seinem Vater hierhergefahren. Irene war damals zu Hause geblieben. Keiner wußte, warum sie sich entschieden hatte, ihren Sohn nicht zu begleiten. Während der Fahrt hatten die beiden kaum ein Wort gewechselt. Hans Ott sprach gern über seine Firma, aber ungern über Probleme außerhalb.
Irene Ott nahm auf dem Rücksitz Platz und kurbelte das Fenster herunter. »Steig ein, Emil, komm, Hans, wir wollenlosfahren!« Weil sie saß, wirkte sie noch kleiner. Die Polster, in denen sie versank, waren mit dunkelblauem Stoff
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