Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
einer Nervenklinik aufhalten sollen? Weil sich irgend etwas ereignet hatte,womit er nicht zurechtkam. Ein Ereignis außerhalb der Normalität. Niemand hielt sich grundlos dort auf, man wurde interniert oder ließ sich einweisen. Fachleute entschieden über die Dauer des Aufenthalts und die Art der Behandlung. Gummizelle. Zwangsjacke. Schlafkur. Ruhigstellung. Wenngleich ich mich nie damit beschäftigt hatte, stellte ich nun fest, daß sich vom Unbekannten leichter alle möglichen Vorstellungen abstrahieren ließen als von der Normalität. Der Internierte war eine Gefahr für sich selbst oder die anderen, solange er nicht eingesperrt war. Mein Vater hatte sich im Alter von vierundzwanzig Jahren umgebracht, hatte er schon früher einen Selbstmordversuch unternommen? Plötzlich schien mir das sehr wahrscheinlich. Mit achtzehn, warum nicht? Selbstmordversuche wurden in jedem Alter begangen, Selbstmorde können früh gelingen. Als er die Karten schrieb, war er noch längst nicht volljährig gewesen. Ich dachte an Benjamins Worte, daß er ein Opfer der Umstände, der Gesellschaft gewesen sei. Sie erschwerten das Verständnis dieser weit zurückliegenden Situation noch.
Ich hatte richtig vermutet, es handelte sich tatsächlich um jene neutralen beigefarbenen Karten, wie man sie damals bei jedem Postamt erwerben konnte und deren Wert den der Briefmarken lediglich um zehn Rappen überstieg. Da sie keine fotografischen Ansichten boten, keine Hotels, Berge oder sonstigen Sehenswürdigkeiten, waren sie beidseitig verwendbar. Man benutzte sie vorzugsweise, um sachliche Informationen weiterzugeben. Wer immer sie in die Hände bekam, konnte sie ungestraft lesen, allen voran Postboten und Postangestellte, aber auch jene Familienmitglieder, die den Briefkasten als erste erreichten. Warum hatte mein Vater sie nicht in Kuverts gesteckt, bevor er sie weggeschickt hatte?
DreiKarten waren nur sparsam beschriftet, die restlichen vier bis an die Ränder vollgeschrieben. Mein Vater rückte, außer nach dem Datum zu Beginn, keine Absätze ein. Einmal begonnen, schien er unbeirrt fortfahren zu müssen. Selbst der Gruß am Ende war nicht abgesetzt, er fügte sich nahtlos an den letzten Satz an.
Ich las die Postkarten – weiches Papier, das sich feucht anfühlte – zuerst im Hotelzimmer, kurz nachdem ich Andrés jungen Bekannten in der Kneipe zurückgelassen hatte. Ich schloß mich ein, setzte mich aufs Bett, zog die Nachttischlampe heran und richtete das Licht darauf.
Nachdem ich sie entziffert hatte, vertiefte ich mich wieder und wieder in diese Botschaften, die mich völlig überraschend erreicht hatten. Ich las sie später noch einmal auf einer Parkbank im Jardin du Luxembourg, ich las sie im Zug nach Hause und davor im Bahnhof, und so ist es wohl kein Wunder, daß die Geräusche und Gerüche von Paris in mir aufsteigen, sobald ich daran denke, wie ich meinem Vater zum ersten Mal so nahe kam wie nie zuvor. Je öfter ich sie las, desto leichter fiel mir die Lektüre, bis mir die Schrift fast so vertraut war, als ob es meine eigene wäre. Ich war nicht am Ziel, aber zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, nicht gegen eine Mauer zu stoßen. Lautlos hatte sich etwas aufgetan. Wenngleich noch immer rätselhaft, trat mein Vater nun aus dem Nebel hervor und gab sich zu erkennen. Als er diese Zeilen geschrieben hatte, war er nur ein paar Monate älter gewesen, als ich es heute war. Es war mir wichtig, dies sagen zu können. Wie wären wir uns begegnet? Wie Benjamin und ich?
Erschrieb am 2. November 1948:
Lieber A. Bin seit fünf Tagen hier. Bin hier und weiss nicht recht warum. Weiss es doch. Natürlich. Finster kam mir alles vor. Finster wie draussen. Draussen nieselt es, es ist kühl. Bin in einem Schlafsaal mit hundert Andern. Man soll nicht übertreiben. Immer übertreibst du, sagen sie immer. Nein, aber schon zwanzig, mindestens. Habe sie nicht gezählt. Zwanzig Männer, unterschiedlichstes Alter. Keiner in meinem Alter. Nachts ein furchtbarer Lärm, Gestöhne. Alte Männer. Gestinke und Gefurze. Socken liegen herum. Was habe ich hier verloren? Ich komme hier nie mehr raus. Ich komme raus, sagt jeder, mit dem ich rede. Personal. Ärzte. Darunter ist einer, der Gedichte schreibt und Dramen. Er sagt selber Drama. Alle behaupten, sie verstehen mich. Wir verstehen dich. Aber was denn? Ich verstehe mich nicht. Ich will ja gar nicht. Willst du überhaupt. Es muss sich etwas ändern. Wenn ich es könnte, würde mich nichts aufhalten. Aber
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