Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
plötzlich auf meine legte, weg, stand auf und sagte:
»Ichverstehe kein Wort! Rien! Rien! Rien! Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst und was dir dein Freund André erzählt hat, ich verstehe nicht, was du meinst, und ich weiß auch gar nicht, was es dich angeht, was es dich und André angeht. Es geht niemanden was an außer mir, oder?«
Erschrocken sah er mich an, und ich setzte mich wieder. Die Bedienung, die auf uns aufmerksam geworden war, zog sich zurück, als Benjamin abwinkte.
»Ich wollte dich nicht verletzen«, sagte er, und fügte, bevor ich erneut auffahren konnte, noch leiser und wirklich sehr freundlich hinzu: »Lies diese Karten aus der Klinik, vielleicht steht da was drin, was dich weiterbringt, vielleicht verstehst du dann, was ich meine, daß er ein Opfer war, ein Opfer der Gesellschaft, der Umstände, de ces sâles cons , verstehst du?« Unwillkürlich umklammerte ich den Umschlag.
»Ich nehme an, du weißt Bescheid?«, sagte Benjamin.
Klinik. Klinik? Ich wußte nicht Bescheid und tat auch nicht, als ob es anders wäre. Ich schüttelte nur den Kopf und fragte: »Was ist eigentlich so interessant an meinem Vater, daß André dir nach all den Jahren Dinge von ihm erzählt, von denen nicht einmal ich etwas weiß?«
»Dein Vater war zu gutgläubig«, er machte eine Handbewegung, deren Bedeutung mir unklar blieb, »und zu spontan, für damalige Begriffe zumindest. Er war noch so jung, und damals war jung jünger als heute und alt vermutlich auch, nicht wahr? Bestimmt wollten sie dich schonen.«
Ich ließ mir den Begriff épargner erklären.
»Wovor denn?«
»André hat mir erzählt, daß dein Vater, schon als er jung war, schon in der Schule, ein wenig aus der Reihe tanzte und daß man das nicht zuließ, also haben sie ihn mitachtzehn ins Irrenhaus gesperrt, in eine Klinik, wo er so lange bleiben mußte, bis er sich in ihren Augen wieder normalisiert hatte. Ich weiß nicht, wie lange er dort war. André hat mir davon erzählt, und es hat mich interessiert, weil mich die Geschichte der Irren, der Kranken und Aussätzigen interessiert, les fous, tu vois . Ich lese in meiner Freizeit darüber, was ich kriegen kann. Ich lese alles.« Vor lauter Begeisterung hatte er sich in eine Hitze geredet, die sein blasses Gesicht zu röten begann.
»Und diese Karten?« Ich hob den Umschlag hoch.
»Die hat er André von dort geschrieben. Von dort, wo er war. André wollte sie dir gestern schon geben, hat sie aber nicht gleich gefunden. Er wollte nicht darüber sprechen, bevor er nicht sicher war, daß sie noch in seinem Besitz waren. Er fürchtete, er hätte sie verloren. Mit Andrés Ordnung ist es nicht weit her. Hier sind sie nun. Das ist gut, nicht wahr? Er wollte, daß du sie liest oder jedenfalls besitzt. Sie gehören dir, egal, was du damit anfängst. Sie geben Auskunft. Er hat dir auch ein bißchen Geld in das Kuvert gelegt, denn er sagt, er ist dir was schuldig, er ist ja schließlich dein Patenonkel, und er hat sich nie um dich gekümmert, sagt er.«
»Hast du sie gelesen«, fragte ich.
Er schüttelte so prompt den Kopf und blickte so empört, daß ich ihm nicht glauben mochte.
»Was gehen sie mich an«, sagte er. Nun war ich sicher, daß er log.
Ich riß den Umschlag auf, warf einen kurzen Blick hinein, sah einige Geldscheine, mindestens fünf Hunderter, die mit einer Büroklammer zusammengehalten wurden, und zog sie heraus. Ich reichte ihm das Bündel und sagte: »Ich brauche das nicht. Bezahl davon den Kaffee und behalte den Rest.« Dann stand ich auf. Er war zu verblüfft, um abzulehnen. Doch er wollte mich begleiten. Er erhobsich und setzte sich wieder, als ihm klar wurde, daß es noch eine Weile dauern würde, bis er bezahlt haben würde. Er war sprachlos, jedenfalls sagte er nichts. Das Geld lag auf dem Tisch, er sah darüber hinweg, als ob ihm der Anblick der Scheine peinlich wäre. Er schwieg und ließ mich gehen. Er konnte das Geld sicher brauchen. Ich war froh, daß ihm nichts mehr einfiel.
Die Karten, die ebenfalls in dem Umschlag steckten, waren mir nicht entgangen. Ich war fast sicher, daß es sich nicht um Ansichtskarten handelte, sondern um jene neutralen, vorfrankierten Postkarten, auf denen lediglich vier Linien anzeigten, wo man den Adressaten einzutragen hatte.
Als ich am nächsten Morgen aus dem Hotel trat, stand niemand da. Daß ich insgeheim jemanden erwartet hatte, wurde mir erst in diesem Augenblick bewußt. Doch weder Benjamin noch André paßten mich ab, und
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