Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
gemacht hatte, in Luft auflösen würde. Irene Ott starrte weiter auf ihren Teller und schien zu überlegen, was sie zählen sollte, die Reiskörner, die Erbsen oder beides. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, meldete sich nun plötzlich ihr Körper. Sie begann zu schwitzen, obwohl die Temperatur im Eßzimmer bestenfalls überschlagen war. Sie spürte, wie Schweißtropfen auf ihre Haut traten und binnen kürzester Zeit ihren Körper von der Stirn bis zu den Oberschenkeln bedeckten. Das waren ihre weiblichen Symptome, hormonelle Dinge, über die sie nicht einmal mit ihrem Hausarzt sprach. Sie war auf alles gefaßt, was immer noch besser war, als einzugreifen. Sie würde weiterhinschweigen, und niemand konnte ihr daraus einen Strick drehen.
Die Pause, die sich die beiden gönnten, war nur von kurzer Dauer.
Hans Ott sagte: »Wir wollen nur dein Bestes.«
Emil erwiderte: »Und genau das ist nicht, was ich will. Weil euer Bestes mit meinem Besten nicht übereinstimmt.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
Was Hans Ott danach sagte, hätte nicht gesagt werden dürfen, aber einmal ausgesprochen, ließ es sich nicht mehr zurücknehmen, das war ihm ebenso klar wie seinem Sohn, auch wenn er es im nachhinein bereute. Vielleicht war ungewollt alles darauf hinausgelaufen, seitdem er begonnen hatte, von Hedinger zu sprechen. Vielleicht hatte er angesichts der Handbewegung, die sein Sohn gemacht hatte, nicht anders reagieren können. In seinen Augen wirkte die Geste weibisch und daher provozierend, unerträglicher für ihn, als sich verständlich machen ließ, denn Emil war, wie unvernünftig er sich auch verhielt, doch sein Sohn.
Aber Hans Ott konnte solche Allüren nun einmal nicht ausstehen, und Emil wußte es, und da der Vater wußte, daß Emil dies wußte, mußte er davon ausgehen, daß sein Sohn mit Absicht handelte. Anzunehmen, daß es keine Absicht war, daß es ihm einfach so passierte, daß ihm solche Gesten – wegwerfende Handbewegungen – ungewollt unterliefen, wäre womöglich noch schlimmer gewesen. Darüber wollte er gar nicht nachdenken. Sie waren nicht füreinander geschaffen, zu fremd, zu verschieden, zu stolz. Ein schrecklicher Zustand. Jeder hatte seine eigenen Vorstellungen davon, was für ihn gut und was normal sei. Daß sein Sohn drei Wochen in der Klinik zugebracht hatte, war ein Beweis dafür, wer recht hatte.
Erhatte mit Irene nicht darüber gesprochen. Obwohl ihm die Worte Professor Hedingers in der vergangenen Nacht schlaflose Stunden bereitet hatten, war er nicht imstande gewesen, sie in ihrer Gegenwart zu wiederholen. Sie hatte auch nur leichthin nachgefragt. Und sie tat, als entgingen ihr seine Nervosität und deren Ursache.
Er hatte ihr nicht viel mehr erzählt, als das, was sie selber schon wußte und worüber sie bereits des öfteren gesprochen hatten, und das entbehrte der unverblümten Deutlichkeit von Hedingers Worten. Ob Hans Ott diese freundlich vorgetragene Unvernünftigkeit durch seine vielleicht allzu offenen Fragen erst provoziert hatte oder ob Hedinger in jedem Fall so geantwortet hätte, wußte er nicht, er sah ihn erst zum zweiten Mal. Hedinger war Arzt, Hans Ott kannte weder seine Methoden noch seine Art sich auszudrücken.
Wäre Emil nicht sein einziger Sohn gewesen, hätte er sich möglicherweise besser in die neue Situation gefügt, die zugegebenermaßen gar nicht so neu war. Sie zeichnete sich tatsächlich schon seit zwei, drei Jahren ab. Irene war weniger blind, dafür zurückhaltender gewesen. Duldete sie es oder war es ihr gleichgültig? Nicht nur, daß sein einziger Sohn kurz vor der Matura die Schule hatte abbrechen wollen – was man ihm inzwischen ausgeredet hatte –, nicht nur, daß er gelegentlich auch heute noch davon sprach, Künstler statt Lehrer zu werden, er war seiner ganzen Natur nach anders, so verschieden, daß Hans Ott die Worte fehlten oder zumindest nicht über die Lippen kommen wollten, mit denen sich dieses Anderssein hätte bezeichnen lassen. Künstler! Welche Art Künstler? Schauspieler, Maler, Schriftsteller, Zirkusartist? Hans Ott brachte natürlich mit Absicht alles durcheinander, am liebsten aber, wenn er mit Emil sprach. Und nachts kam die Unruhe, die ihn wach hielt.
Hatteer sich tatsächlich eine Umkehr versprochen, oder war es ihm nur darum zu tun gewesen, sich selbst zu beruhigen, als er Emil dazu zwang, sich in ärztliche Behandlung zu begeben, wie er das nannte, während andere von einem Aufenthalt in der Klapsmühle
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