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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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bespannt. Der Ausdruck ihrer Augen widersprach ihrem aufgekratzten Verhalten. Emil wollte sie nicht mehr anschauen.
    Nachdem er seinen Koffer im Kofferraum verstaut hatte, setzte er sich ebenfalls in den Fond. Irene Ott saß üblicherweise nicht hinten, wo die Sitze weniger gut gefedert waren als vorne, denn dort wurde ihr schlecht. Nun aber saß sie da, wo Emil sonst allein saß, als habe sie nie woanders gesessen, sehr aufrecht und sichtlich beherrscht. Nachdem auch der Vater eingestiegen war und den Schlüssel ins Zündschloß gesteckt hatte, kurbelte sie das Fenster wieder hoch. Einen Augenblick lang herrschte Stille, in die gut ein erlösender Satz gepaßt hätte. Aber keinem wollte er einfallen, und also sprach ihn niemand aus. Das Auto fuhr stotternd an, und als es beschleunigte, fühlte sich Emil für kurze Zeit aufgehoben, fast so wie früher, wenn sie sonntags ausgefahren waren und weder ein anstrengender Spaziergang noch ein öder Verwandtenbesuch bevorstand. Wie jedes Glücksgefühl hielt auch dieses nicht lange an, doch er genoß es, wenngleich fast widerwillig.
    Er blickte auf den geröteten Nacken des Vaters, und er roch das Rasierwasser, mit dem er sich jeden Morgen großzügig begoß. Er blickte auf den Nacken und die Furchen, die ihn durchzogen, und in einem anderen Teil seiner Wahrnehmung tauchte die rote Flasche mit dem weißen Segel auf, das Aftershave des Vaters. Der Hut, den er auch beim Fahren nicht abnahm, saß fest auf seinem nackten Schädel. Sicher hätte er gern über das aktuellste Toastermodell dieser oder den revolutionären Luxusstaubsauger jener Marke gesprochen, aber da er wußte, wie verpönt das war, hielt er sich zurück. Es war jetzt nicht derrichtige Moment. Ohne ausdrückliche Erlaubnis seiner Frau durfte die Firma, auf die er so stolz war, in seiner Freizeit nicht erwähnt werden, und er hielt sich fast immer daran. Das fiel ihm leichter, wenn das Geschäft gut lief, und die Geschäfte liefen momentan sehr gut.
    Es kamen ihnen nur vereinzelt Autos entgegen. Die Landschaft blieb ländlich, unter Bäumen, die ihr Laub schon verloren hatten, standen Kühe dicht beieinander und wärmten sich gegenseitig, Menschen waren nicht unterwegs, die saßen beim Essen. Kaum war der Wagen losgefahren, versank der Schlafsaal, den Emil sich mit sechzehn, manchmal zwanzig weiteren Insassen geteilt hatte, in der Irrealität seiner kurzfristigen Klinikexistenz. Keiner war jünger gewesen als er, keiner gleichaltrig. Der Schlafsaal hatte manchen auch tagsüber als Aufenthaltsraum gedient, den sie nur unter Zwang verlassen hätten, selbst dann, wenn Feuer ausgebrochen wäre. Das war ihr Heim, ihr Zuhause.
    Einmal versuchte Irene Ott, die Hand ihres Sohnes zu ergreifen, doch Emil ließ sie nicht gewähren, er zog sie zurück. Er steckte beide Hände in seine Achselhöhlen, wo sie besser aufgehoben waren als bei ihr. Der Vater fragte, ob sie keinen Hunger hätten, man könnte schon irgendwo einkehren. Emil war nicht hungrig. Er hatte ausgiebig gefrühstückt. Die Mutter gluckste. Sie würde gewiß bald wieder zu weinen beginnen. Wegen der entzogenen Hand. Weil sie sich nichts zu sagen hatten. Weil nichts mehr war wie früher. Weil sie unglücklich war. Weil er unglücklich war. Weil sie nur dieses eine Kind hatte. Weil eines der anderen Kinder, die sie hätte haben wollen, aber nicht gehabt hatte, sie für ihr Unglück entschädigt hätte. Er sah sie nicht an. Er starrte hinaus in die Landschaft. Was wäre, wenn er sagen würde, was er von ihnen dachte? Es lag ihm auf der Zunge. Er verschluckte es.
    Siewürgte an einem Kloß neuer Tränen. Das hatte er nun davon, daß er ihr die Hand nicht überlassen hatte. Warum nahm sie den lächerlichen Hut nicht ab?
    Währenddessen konzentrierte sich Hans Ott auf die Straße. Der Regen begann plötzlich, und er setzte den Scheibenwischer in Gang, dann erzählte er irgend etwas. Er gab sich entspannt, schaute jedoch immer wieder aufmerksam und fragend in den Rückspiegel. Er versuchte, die Situation einzuschätzen. Emil rückte aus seinem Blickfeld, drückte sich gegen die Tür, bemerkte aber, daß der Vater ihn weiter im Auge behielt. Der Regen wurde dichter, er prasselte aufs Dach. Der Vater schaltete die Geschwindigkeit des Scheibenwischers auf die höchste Stufe. Besser wäre es gewesen, anzuhalten und abzuwarten, bis der Regen nachließ. Er wurde noch stärker, man sah keine zehn Meter weit. Ein grauer, mit einer Plane überdachter Lastwagen kam ihnen

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