Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
Augen, zwischen Vater und Sohn, weit weg. Sie wünschte sich vergeblich, daß es durch irgendeinen äußeren Umstand bald beendet werden würde, durch das Klingeln des Telefons etwa, das sich aber nicht regte, oder durch ein fremdartiges Geräusch, das sie alle zwänge, unverzüglich vom Tisch aufzustehen, um nachzuschauen, was das gewesen sei, aber nichts geschah, und wenn irgendwo etwas geschah, dann war es hier, wo sie saßen, nicht zu hören. Sie fürchtete, daß sie über kurz oder lang von einem der beiden, ihrem Mann oder ihrem Sohn, dazu aufgefordert werden könnte, ihre Meinung zu äußern, und sie wollte und würde nicht zugeben, daß sie zu dieser Sache keine Meinung, sondern bloß eine unübersehbare Ansammlung widerstreitender Gefühle beizusteuern hatte, die sie daran hinderten, klar zu denken oder angemessen zu reagieren und die richtigen Worte zu finden. Was in ihr vorging, verfestigte sich zu einem Gewicht, das auf ihrem Herzen lag. Am meisten aber fürchtete sie einen jener Wortwechsel, in die fast jede Auseinandersetzung zwischen Emil und Hans ausartete. Sie sagte nichts, sondern konzentrierte sich auf ihren Teller, der noch halb voll war. Sie verspürte längst keinen Appetit mehr. Dennoch stocherte sie im Essen herum, als suchte sie darin das Körnchen Wahrheit, das ihr weiterhelfen würde.
»Er hat mit dir gesprochen, nicht mit mir. Ich glaube, er spricht anders mit einem Patienten als mit einem Besucher wie dir. Du bist kein Patient«, hörte sie Emil sagen, und vielleicht hatte er vorher schon etwas gesagt, was ihr entgangen war, weil ihre Gedanken abgeschweift waren.
»Ja und? Er hat mit dem Vater eines Patienten gesprochen, den er für genauso intelligent hält wie dich, ich denke, er macht keinen Unterschied zwischen den Menschen.«
»Ermacht einen Unterschied zwischen einem Patienten und dessen Angehörigen.«
»Das soll er auch. Was spricht dagegen? Ich wollte ja nur sagen, welchen Eindruck er auf mich machte.«
»Was ist daran interessant?«
Obwohl er natürlich wußte, daß Irene ihm keine Hilfe sein würde, sah sich Hans Ott nach einer Unterstützung um. Nach ihr. Wohin sonst hätte er seinen Blick wenden sollen, etwa nach draußen, wo es schon dunkel wurde?
»Ich wollte einfach über ihn sprechen. Über deinen Arzt, der einen guten Eindruck auf mich machte. Das ist alles.« Hans Ott war etwas lauter geworden.
»Worüber«, begann die Mutter und fuhr, nachdem ihre Stimme beinahe versagt und sie sich daraufhin geräuspert hatte, mit Nachdruck fort: »Worüber habt ihr denn gesprochen?«
Es war keine außergewöhnliche Beobachtungsgabe nötig, um zu erkennen, daß Emil, auch wenn er weiter sitzen bliebe, bald nicht mehr an der Unterhaltung teilnehmen würde.
»Ich wüßte gern«, insistierte der Vater, »was dich daran stört, wenn ich Professor Hedinger als einen, wie ich sagte, verständnisvollen und klarsichtigen –«
Vielleicht war es das Wort »klarsichtig«, vielleicht der Tonfall, in dem er es aussprach, jedenfalls ließ Emil seinen Vater nicht ausreden.
»Du sagtest verständnisvoll und klarsichtig, richtig. Willst du mir erzählen, worüber ihr gesprochen habt? Hat er dich darum gebeten? Hat er dich nicht vielmehr darum gebeten, darüber zu schweigen? Jedenfalls in meiner Gegenwart. Mit ihr«, er deutete mit dem Zeigefinger auf seine Mutter, die zusammenzuckte, als hätte er sie berührt, »kannst du darüber sprechen, soviel du willst. Aber mitdem Patienten sollte man nicht über seinen bevorstehenden Tod sprechen, oder was meinst du?«
Irene Ott ließ das Messer auf die saubere Tischdecke fallen, wo die Sauce, die daran haftete, einen Flecken hinterlassen würde, und sagte viel lauter als sonst: »Was redest du denn?«
»Ich rede, was und wie es mir gerade in den Sinn kommt, wenn ich ihn so reden höre, was ihm gerade in den Sinn kommt.«
Nun hielt auch Emil beim Essen kurz inne.
»Ich weiß ja nicht, wozu du mich zwingen willst, aber ich weiß, wozu ich mich nicht zwingen lasse«, sagte der Vater. »Ich wollte dir nur von meinem Gespräch mit dem Professor erzählen, der einen günstigen Eindruck auf mich gemacht hat.«
»Dann erzähl doch. Los. Wie lange habt ihr gesprochen? Zehn Minuten, eine halbe Stunde? Die Details, alle Details!« Er klopfte auf seine Armbanduhr.
»Ich habe nicht auf die Uhr geschaut.«
Hans Ott machte eine Pause, in der er vielleicht hoffte, daß sich all das, was eine vernünftige Unterhaltung in den letzten Minuten unmöglich
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