Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
entgegen, eine Wasserwoge schlug über dem Auto zusammen und drückte es spürbar zur Seite. Irene Ott schrie. Der Vater war in seinem Element, er triumphierte: »Habt ihr gesehen? Habt ihr gesehen, was der für eine Bodenhaftung hat? Mitten in der Kurve und bei dem Regen! Das ist ein Auto! Das in der Kurve!« Es war gar keine Kurve, die Straße verlief schnurgerade, aber Emil unterließ eine Bemerkung. Im Auto war es nun feucht und warm, und der Regen schlug unvermindert seine Trommelwirbel auf das Wagendach.
»Halt an! Stopp!«
Irenes Bitte, ein Aufstöhnen, das sogleich erstickt wurde, kam zu spät, sie hatte zu lange gewartet. Das Glucksen ging plötzlich in ein abgrundtiefes Rülpsen und dieses in ein röhrendes Würgen über. Emils Mutter war übel geworden. Ihr Magen hatte das Geholper und Geschaukel im Fond des neuen Lancia genausowenig ertragen wie im alten. Vielleicht war es der Schwall Wasser gewesen,der das Auto ergriffen hatte, vielleicht das Wort Kurve, das ihr den Rest gegeben hatte. Doch offensichtlich war sie darauf vorbereitet gewesen, und nun erwies sich der lächerliche Hut als Rettung in der Not. Geistesgegenwärtig hatte sie ihn sich mitsamt einigen Haarnadeln und Haaren vom Kopf gerissen, um ihn als Eimer zu benutzen. Sie beugte sich darüber und erbrach alles, was sie an diesem Tag gegessen hatte, in dieses weiche Gefäß. Emil rückte zur Seite. Der Vater stieß einen Fluch aus, schrie: »Ich hab’s dir doch gesagt! Ich hab’s dir doch gesagt!« und riß das Steuer so heftig herum, daß der Wagen auf der nassen Straße kurz ins Schleudern geriet. Verzweifelt hielt Irene mit beiden Händen den formlos und schwer gewordenen Hut fest. Da hatte Hans Ott den Wagen schon wieder im Griff. Als er zum Stehen kam, mußte er feststellen, daß das Unglück in vollem Gang war. Emil konnte nicht länger hinschauen.
Er stieß die Tür mit dem Fuß auf, was sein Vater sicher nicht gern gesehen hätte, und trat in den strömenden Regen hinaus, der die Laute im Inneren des Wagens überdeckte. Erfrischend lief ihm der Regen übers Gesicht. Er hörte den Vater sagen: »Ich hab dir doch gesagt, du sollst eine Tablette nehmen und vorne sitzen.« Sie saß da, ein Häufchen Elend und doch ein wenig stolz darauf, eine so probate Lösung für ihr Problem gefunden zu haben. Mit feuchten Händen hielt sie den Hut fest, den sie wenig später, als sich ihr Magen wieder beruhigt hatte, in einen Busch werfen würde. Ihre Bluse, ihr Kleid, ihre Hände waren nicht beschmutzt worden. Und das sagte sie ihrem Mann später auch. Mit Recht durfte sie sich darauf etwas einbilden.
Eine halbe Stunde später fragte er seine Eltern, ob sie Umberto Giordano kennten. »Umberto wer?« Nein, sie wußten es nicht. Sie hatten diesen Namen nie gehört, was Emilmit einem Gefühl der Befriedigung erfüllte und den Vater vermutlich in seiner Meinung bestärkte, sein Sohn habe Interessen, die sich mit seinen absolut nicht deckten.
Am nächsten Tag kamen sie beim Abendbrot auf die Unterhaltung zu sprechen, die Hans Ott kurz vor Emils Entlassung aus der Klinik mit dem Professor geführt hatte, der sich, wie er sagte, auch als Dichter hervorgetan habe. Er schreibe Sonaten. Alles sei möglich.
»Sonette«, sagte Emil.
Hans Ott überhörte das und fuhr fort, Professor Hedinger habe ihm erzählt, er schreibe Dramen in Versen, die auch schon im Stadttheater aufgeführt worden seien, Dramen über Pontius Pilatus, Jesus und die Pharisäer, Abraham und Joseph. Hans Ott gab den Eindruck wieder, den Hedinger, ein verständnisvoller, klarblickender Arzt, auf ihn gemacht hatte. Daß er ein Irrenarzt sei, sei ihm nicht anzusehen, sagte er.
»Auch Verständnis für dich«, fragte Emil kurz angebunden, während er weiterkaute.
Hans Ott ließ die Gabel, an der ein Stück Fleisch steckte, bis zum Tellerrand sinken und sah seinen Sohn an. »Wie soll ich das verstehen?« Und etwas versöhnlicher: »Wie meinst du das?«
»Hat er auch Verständnis dafür gezeigt, wie wenig Verständnis du für mich hast?«
Emil verzog den Mund zu einem Grinsen, stolz über diese Formulierung, die als solche auf seine Eltern sichtlich weniger Eindruck machte als das, was sie meinte.
Irene begann unruhig auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen und betupfte ihre feuchten Lippen mit der sauberen Serviette. Sie wünschte sich, dieses Gespräch, das nun einmal stattfand, würde nicht am Tisch geführt, nicht beimEssen, vor allem nicht in ihrer Gegenwart, sondern unter vier
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