Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
Vom Netzwerk:
gesprochen hätten? Er wußte es selber nicht mehr.
    Was sprach dagegen, ihn notfalls ein weiteres Mal einliefern zu lassen, so oft und so lange, bis Hedingers Heilmethoden anschlugen? Daß Hedinger ihm keinerlei Hoffnungen gemacht hatte, sprach dagegen, auch Emils Aufbegehren, das, wie er fürchtete, immer wilder werden würde. Hedinger meinte, wer so fühle, handle nach eigenen Gesetzen, im übrigen stehe Emils Neigung dem Lehrerberuf keineswegs im Weg, da ein gewisser Infantilismus begeisterungsfähige Erzieher hervorbringe. Er sprach von pädagogischem Eros und bedingungsloser Zuwendung zu den Kindern. Hans Otts Entsetzen war mit jedem Wort größer geworden, er wollte nicht nachfragen, was er um Himmels willen damit meinte. Hedinger sagte, wer so sei, lasse sich erfahrungsgemäß nicht durch Ratschläge Dritter beeinflussen. Auch Hans Ott wußte aus eigener Erfahrung, wie wenig Ratschläge fruchteten. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu nicken. Nichts, was die Natur hervorbringe, könne ganz gegen die Natur sein, sagte Hedinger, und Ott hätte gern nachgefragt, hätte gern mehr gewußt, aber er war zu eingeschüchtert und zu niedergedrückt von diesen Worten, die das Gewicht unumstößlicher Gewißheiten hatten. Er hätte sich gern alles merken wollen, was Hedinger sagte, aber er schaffte es nicht, und um so weniger, je hoffnungsvoller er erwartete, daß aus dem Mund des Arztes endlich etwas Aufbauendes käme, etwas, was ein neues Licht auf alles werfen würde. Den einmal eingeschlagenen Weg zu verlassen, sei solchen Patienten verwehrt. Man könne damit leben, wenn mannicht zu auffällig lebe. Sein Achselzucken war Hans Ott nicht entgangen. Und wenn es nun tatsächlich bedeutete, daß Emil verloren war? Wollte ihm Hedinger zu verstehen geben, daß man Emil nicht behandeln könne? In seinem Kopf war in der vergangenen Nacht alles kreuz und quer durcheinandergeraten, aber statt mit seiner Frau darüber zu sprechen, die ihn vielleicht hätte beruhigen können, ließ er sich in den unaufhaltsam mahlenden Strom seiner Befürchtungen hineinziehen, bis dieser alles verzehrt und verschlungen hatte. In weiter Ferne stand sein Sohn und winkte ihm zu. Er stand auf einem nackten Felsen. Es gab keinen Himmel, jedenfalls war der Hintergrund ohne Farbe. Er fürchtete sich vor seinem Sohn, und das war schrecklich. Das machte ihn ihm noch fremder.
    Seine Überzeugung, daß sich alles überwinden und korrigieren lasse, daß jede Krise, jeder Defekt behoben werden könne wie ein gestörter Radioempfang oder eine kaputte Antenne, war im Lauf des Gesprächs mit Hedinger, von dessen menschlicher, vor allem aber medizinischer Erfahrung er sich viel versprochen hatte, mehr und mehr geschwunden. Gegen Ende des Gesprächs hatte Hans Ott noch einmal seinen ganzen Mut zusammengenommen und ihn gefragt, ob es womöglich andere Ärzte, andere Therapien gebe.
    Hedinger hatte trocken geantwortet: »Es gibt andere Symptome.« Und nach einer Weile: »Und auch andere Heilmethoden. Ich würde auf die nicht zurückgreifen wollen. Auf gar keinen Fall. Emil ist viel zu jung.«
    Welche Methoden er meinte, hatte Hans Ott nicht mehr zu fragen gewagt. Hedingers Art war ihm plötzlich unheimlich geworden, als gebe es zwischen dem Arzt und seinem Sohn ein geheimes Einverständnis, ein künstlerisches Band, eine unausgesprochene Sympathie, eine heimlicheAbsprache, die hinter seinem Rücken getroffen worden war, die sich gegen ihn und Irene richtete, und je unaufhaltsamer die Nacht sich dem Morgen zuneigte, und je mehr Gedanken er sich darüber machte, desto klarer wurde das Unklare und unklarer das Klare, bis er schließlich so laut im Traum schrie, daß Irene ihn schütteln und aufwecken mußte. Erst nach dem Aufstehen erinnerte er sich wieder an den Satz: »Der Junge ist erst achtzehn. Lassen Sie ihn durchatmen. Es ist auch schon vorgekommen, daß es vorbeiging, wie es kam.«
    Zum Abschluß hatte Hedinger ihm auf die Schulter geklopft, in Gedanken war der vielbeschäftigte Mann wohl schon woanders, entweder bei einem anderen Fall oder bei einer seiner Sonaten.

[Menü]
    VII
    Nachdem mir Monsieur Delorme freundlicherweise die Telefonnummer herausgesucht hatte, bot er mir an, von seinem Apparat aus in der Rue Blanche anzurufen, da es im Hotelzimmer selbst keinen Anschluß gab. Ich folgte ihm in die privaten Räume. Er drehte den Fernseher leiser und verließ das Zimmer. Ich ging davon aus, daß er zuhörte, ohne wirklich horchen zu wollen. Er hantierte

Weitere Kostenlose Bücher