Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
laufen, bis André nicht mehr konnte, und vielleicht noch etwas länger. Als Sieger hervorzugehen, aber nicht zu triumphieren, war die süße Rache dafür, daß er ihn neulich absichtlich übersehen hatte. Er genoß die Hitze und den Schweiß, der ihm in langen Rinnsalen übers Gesicht, über Hals und Brust, über Rücken und Beine rann. Er genoß im voraus den Augenblick, in dem Andrés Übermut in Neid und Anerkennung und schließlich in Bewunderung umschlagen würde.
Als Emil ihn leichtfüßig überholte, grinste André und rief ihm zu: »Das schaffen wir.« Als er ihn überrundete, war Andrés Miene von der Anstrengung, sich messen zu wollen, wo längst keine Hoffnung mehr bestand, zu einer Grimasse verzerrt, und er sagte nichts mehr. Kurze Zeit später gab er auf. Unerwartet scherte er aus und ließ sich neben der Aschenbahn ins trockene Gras fallen. Emil lief unterdessen die Bahn ein letztes Mal ab, bevor er sein Ziel erreicht hatte. Ein Ziel, das niemand kannte außer ihm. Oder täuschte er sich?
Er fiel neben André auf die Knie. Er tat es ihm nach, zog sein Leibchen aus und warf es neben sich ins Gras. »Vier Kilometer«, sagte er, wobei er seine Genugtuung nicht zu unterdrücken versuchte.
»Vier Kilometer bis zu mir«, antwortete André so bescheidenund liebenswürdig, daß Emil sich schämte. War das derselbe Junge, der ihn vor einer Woche mit Vorbedacht übersehen hatte? Er kauerte vor André.
André stützte sich auf die Ellbogen und zog die Knie etwas an. Nie hatte Emil einen Körper so wohlgeformt und schön gefunden. Es war kein Kinderkörper. Wäre er so ehrlich und beherzt gewesen wie André, hätte er es ihm gesagt. Aber außerhalb der Aschenbahn traute er seiner eigenen Glaubwürdigkeit und Stärke nicht. Traute er dem, was er fühlte? Er schwieg, aber er sah nicht weg. Ja, dem traute er.
Sie sahen einander an, und es war, als ob Andrés Blick in seine Pupillen eindränge. Während sich ihre Umgebung in gleißender Helligkeit auflöste, fragte André: »Darf ich sehen, womit du das schaffst?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, streckte er seine Hand aus. Er berührte Emils Oberschenkel keineswegs zufällig und fuhr langsam darüber. Dann ergriff er Emils Arm und dessen Hand und legte sie auf seinen eigenen Oberschenkel, auf dem sich ein leichter Sonnenbrand ankündigte. Beide sahen sich um. Sie waren nicht allein, aber niemand konnte sie sehen. Die anderen waren weit weg.
Die fremde Hand brannte und kühlte zugleich, sie war warm, trocken und erfrischend, ganz anders als die Haut, die er berührte. Allmählich wurde sie ihm vertraut. Von Andrés Hand gelenkt, fuhr Emils Hand sachte von Andrés Oberschenkel zu seinem Bauch, vom Bauch zur Brust, zurück zum Bauch, auf dem klarer Schweiß im Flaum der Haare eine kleine perlende Lache bildete.
Emils Hand glitt über einen salzigen See, den er gern ausgetrunken hätte. Statt dessen schloß er kurz die Augen. André keuchte, nicht von der Anstrengung, die hinter ihm lag, da war sich Emil sicher. Emil öffnete die Augen und da geschah es, André küßte ihn.
Einpaar Sekunden später umfaßte Emils Hand zum ersten Mal das Glied eines anderen Jungen. Es war heiß wie die Sonne, die auf sie niederbrannte, und fest wie der Griff eines Messers, das jeden Knoten lösen konnte.
Sie sahen sich wieder um, dann legten sie sich hin. Die anderen waren weiter entfernt als der Mond. Selbst ihre Stimmen waren kaum zu hören. Bäuchlings lagen sie mitten auf dem Sportplatz, vor sich die Aschenbahn, hinter sich die Zuschauertribüne. Hier war Raum genug für ihre erste Begegnung und ihre ungezügelte Lust. Niemand hinderte sie daran, zu tun, was sie taten. Der Hitzewall, der sich zwischen ihnen und dem Rest der Welt erhob, flirrte und wellte sich und machte sie fast unsichtbar, er gab ihnen die nötige Sicherheit, fernab von den anderen noch einen Schritt weiter zu gehen. Die Worte, die sie einander zuflüsterten, waren unflätig und ungewohnt, feierlich und geschmacklos, und er behielt sie für immer für sich. Sie waren alles, nur nicht kindlich.
Obwohl er inzwischen geduscht hatte, versuchte Emil in der folgenden Nacht immer wieder, jenen unverwechselbaren Geruch wiederzufinden, der ihn so erregt hatte. Er führte die Hand, die am Nachmittag Andrés Bauch berührt hatte, an seine Nase, doch sie roch nach nichts, nur nach Erinnerung. Dann stellte er fest, daß es genügte, sie lange genug an das eigene Geschlecht zu halten, um die Gerüche des Nachmittags
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