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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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herbeizuführen. An der zermürbenden, ihn schier zerreißenden Traurigkeit, die er beim Gedanken an André empfand, änderten sie nichts. Wann würde das nächste Mal sein, wann der Blick so nah, die Hand auf seiner Haut, all das?
    Die Traurigkeit verflog rasch, denn von diesem Tag an war es nicht mehr nötig, Emil zu ignorieren, um ihn zu überlisten. Sie telefonierten am nächsten Morgen, sie sahensich noch am selben Abend wieder. Ein Glück, daß beide Familien Telefonanschlüsse hatten. Sie sahen sich am nächsten und übernächsten Tag. Jeder konnte von den Berührungen des anderen nicht genug bekommen, was nicht immer einfach war, da ihr Verhalten den Anschein, gewöhnliche Freunde zu sein, nicht beeinträchtigen durfte. Sie allein wußten, daß sie es nicht waren. Was sie waren, hatte keinen Namen, das war auch nicht nötig. Schwieriger war es, keine Blicke zu wechseln, die sie verraten konnten. Was ihnen bevorstand, wenn ihr Geheimnis ans Licht käme, glaubten sie ziemlich genau zu wissen. Es war so naheliegend und grausam, daß sie nie darüber sprachen, doch es lag immer in der Luft.
    Nichts schützte sie besser als die Ahnungslosigkeit der anderen. Niemand schöpfte Verdacht. Während jenseits der Schweizer Grenze Kinder eben noch alt genug gewesen waren, um im Krieg zu kämpfen und zu sterben, hielt man hier eisern an ihrer Unschuld fest. Man behandelte sie beinahe wie Kinder, Gleichgesinnte, die sich gefunden hatten.
    In den Augen der Erwachsenen waren sie unzertrennliche Freunde. Da die Wohnung von Andrés Eltern über mehr Zimmer verfügte als das Haus von Emils Eltern, übernachtete Emil stets bei André, in dessen geräumigem Zimmer zwei Betten standen.
    Ihrer Leidenschaft gingen sie so leise wie möglich nach. Sie sorgten dafür, daß beide Betten morgens zerwühlt aussahen. Zu diesem Zweck legten sie sich erst ins eine, dann ins andere, stets gemeinsam, das machte mehr Spaß. Niemand ahnte, was sich dort abspielte, wo andere Jungen gemeinsam Hausaufgaben machten oder, ihrem Alter entsprechend, über Gott und die Welt diskutierten. Niemand schien sich darum zu kümmern, ob sie schon aus der Pubertät heraus waren. Niemand konnte wissen, daß ihrLachen anderen Dingen galt, als jenen, über die andere Jungen lachten, niemand ahnte, daß ihr Einvernehmen weder auf gemeinsamen Hobbys noch auf Kameradschaft beruhte. Niemand störte sich daran, daß sie manchmal wie Mädchen kicherten, wenn auch mit tieferen Stimmen. Sie achteten darauf, auch außerhalb ihrer vier Wände nicht laut zu sein. Wie andere Jungen hatten sie ihre Geheimsprache, doch ihre setzte sich aus besonderen Wörtern zusammen. Emils Eltern waren froh, daß ihr Sohn endlich einen Freund hatte, noch dazu einen aus gutem Haus. Emil ließ sie in dem Glauben, Andrés Vater sei Konsul.
    Emil und Andrés Eltern sahen sich in all den Jahren, da ihre Kinder ihr geheimes Leben miteinander teilten, nie.
    Es war, als ob sie beide gleichzeitig tief Luft geholt hätten und Hand in Hand ins Wasser gesprungen wären, aus großer Höhe in sehr tiefes Gewässer, mit Leichtigkeit. Das Springen fiel ihnen ebenso leicht wie das Schwimmen, man flog unbeschwert durch die Luft, durchbrach die Wasseroberfläche, ohne Widerstand zu spüren, tauchte unter und zog in der Tiefe weite Kreise. Dort war man in Sicherheit.

    »Woran denkst du«, fragte Emil eines Tages und ließ nicht locker, als André nicht antworten wollte: »Du bist in Gedanken woanders, wüßte nur gern, wo.«
    André sah ihn an: »Wir sind nicht allein.« Emil sah sich um, doch André lachte: »Beruhige dich. Nicht, was du meinst.« »Was meinst du denn?« »Ich dachte gerade an unseren neuen Nachbarn, den langen Kerl mit den zwei kleinen Kindern.« »Was ist mit ihm?« »Er hat blaue Augen und lange Wimpern. Er hat schwarze Haare und schöne Hände. Er hat einen großen Mund und sonst noch was. Der Mann gefällt mir. Die Welt ist voll davon. Was sollman machen? Soll man wegschauen?« »Na und? Was willst du tun?« »Ich kann nicht wegsehen. Ich will nicht wegsehen. Kannst du wegsehen, wenn du so einen siehst?«
    Emil schwieg.
    »Sei ehrlich.«
    »Wie sieht er denn aus?«
    So kam es, daß sie in Gedanken und Worten immer öfter andere in ihre Heimlichkeiten miteinbezogen und sie nach ihrem Gutdünken agieren ließen. Die Welt war voller hübscher Jungen, denen man auf der Straße, in der Schule, auf dem Sportplatz, in der Straßenbahn oder an jedem beliebigen anderen Ort begegnete. André ließ

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