Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
Karten, die Emil aus der Anstalt schickte und an deren Inhalt er sich später kaum erinnerte. Er wollte sein Leben verändern.Er wollte Schauspieler werden, dann wieder Lehrer, er wollte sein bisheriges Leben hinter sich lassen, dann wieder wollte er den vorgegebenen Geleisen folgen. Er wollte seinen Eltern gehorchen und mißfallen. Er fühlte sich von seinen eigenen und den Blicken der anderen verfolgt. Er wollte nicht in den Spiegel schauen, dann wieder blieb er plötzlich mitten in der Stadt vor einem Schaufenster stehen, in dem sich jene spiegelten, die hinter ihm vorbeigingen, während er sich selbst auf der anderen Seite des Fensters zuwinkte. Mit niemandem konnte er darüber sprechen außer mit Hedinger, der ihm nicht helfen konnte, jedenfalls nicht so, wie er es sich wünschte. Dann wieder war alles normal und etwas langweilig, und er wartete, daß sich alles änderte. Das waren die Augenblicke, in denen er sich wünschte, in der Klinik zu sein, wo man ihm helfen würde.
Ich habe gelernt, der Fantasie mit Mißtrauen zu begegnen, da sie wie keine andere menschliche Fähigkeit selbst sanfte Naturen auf den Weg des Verbrechens führen kann. Falschaussage, Betrug, üble Nachrede, Verrat und alle möglichen Affekthandlungen sind ohne sie schlichtweg nicht denkbar. Ich spreche aus Erfahrung. Aber natürlich führt sie nicht notwendig zum Verbrechen. Oft ist die Fantasie das einzige Medium, das uns den Weg zur Erkenntnis weist, eine zunächst nur schwach leuchtende Spur, an die wir uns halten können, bis sie uns schließlich ans Licht der besseren Einsicht führt. Dieses Licht glaubte ich zu sehen, nachdem ich mich von André verabschiedet hatte, und es wurde heller, je weiter ich mich von ihm entfernte.
Als ich damals aus Paris zurückkehrte, hatte ich einiges, woran ich mich halten konnte. Nicht nur die Postkarten aus der Klinik, von deren Existenz vermutlich nicht einmalmeine Mutter wußte, sondern auch weniger konkrete Informationen, von denen eine ebenso starke Wirkung ausging. Wertvoller als alles war die Tatsache, daß ich mit jemandem gesprochen hatte, der meinen Vater gekannt hatte, lange bevor dieser meiner Mutter begegnet war. An meinem Handgelenk war die Uhr meines Vaters. Ihre Zeiger hatten sich seit jener Nacht, in der sie stehengeblieben war, nicht mehr bewegt. Sie zeigten auf Viertel nach drei und warteten geduldig darauf, daß ich sie zum Uhrmacher brachte. Sie entging meiner Mutter nicht. Ich trug ein kurzärmeliges Hemd. Ich glaube, sie erkannte sie sofort. Sie starrte darauf, erwähnte sie aber nicht.
Die Fantasie, die mich auf diese verschiedenen Kenntnisebenen gebracht hatte, war gewissermaßen meine Auftraggeberin, ohne deren Hilfe ich meiner Mutter und Roland nicht so selbstsicher hätte entgegentreten können. Begründete Vorwürfe, die sie mir bezüglich meiner Abwesenheit hätten machen können, wurden im Keim erstickt. Mein Auftreten, eine Folge meines neuen Wissens, war selbstsicher, und so wirkte ich wohl erwachsener als vor meiner Abreise.
Was gleich blieb, war das Mißtrauen gegenüber meiner Mutter. Rolands Gegenwart war nicht von Bedeutung. Von ihm erwartete ich nichts, und ich merkte, daß es ihm nicht anders erging. Meine Mutter zum Reden zu bringen, würde mir nur gelingen, wenn ich einerseits meine Karten offen auf den Tisch legte und andererseits so tat, als wüßte ich mehr, als ich zugeben wollte.
Sobald wir allein waren, erzählte ich ihr, daß ich André getroffen hatte. Natürlich hatte sie damit gerechnet, und so tat sie weder erstaunt noch schockiert. Sie wollte wissen, wie es ihm ging, obwohl sie das nicht im geringsten interessierte. Ich fühlte, daß ihr jede Einzelheit zuviel sein würde. Ich sagte: »Er lebt allein, und er hat einen jungen Freund,der höchstens halb so alt ist wie er selbst. Der Junge heißt Benjamin, und er hat mir etwas gegeben. André liebt Männer. Er liebt ausschließlich Männer.«
Sie nickte.
Ich sagte: »Das wußtest du ja.«
Sie nickte.
»Ist er immer noch Fotograf?«
»Das schon. Aber ich glaube nicht, daß er Paßfotos macht.«
Bevor sie mich unterbrechen konnte, ließ ich meiner durch nichts erhärteten Einbildungskraft freien Lauf: »Er fotografiert Männer. Nicht einfach so. Er fotografiert sie in verfänglichen Stellungen. Du weißt, was ich meine? Bestimmt ein einträgliches Geschäft. Ich bin sicher, er macht viel Geld damit.«
»Hör auf«, sagte sie und wurde blaß, als wäre zu befürchten, ich hätte mich auf
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