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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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sie sich in die Augen. Es war für Veronika so wie es sein mußte. Auch sie griff nach dem Glas, um wenigstens daran zu nippen.
    Er hatte ihr ein Geschenk mitgebracht, sie sollte es öffnen. Es war nicht schwer zu erraten, daß es eine Schallplatte war. Um ihn nicht zu enttäuschen, verschwieg sie, daß sie kein Grammophon besaß. Sie freute sich trotzdem, obwohl ihr ein kleines Gesteck oder ein Strauß, sogar ein Buch lieber gewesen wäre. Blumen konnte man betrachten, Bücher lesen. Was konnte man mit einer Platte anfangen, wenn man sie nicht hören konnte? Er sagte, das sei seine Lieblingsmusik, im Augenblick. War es Liebe oder Bewunderung, die ihn in ihren Augen so anziehend machte? Vorsichtig riß sie das Geschenkpapier auf und zog die Schellackplatte aus ihrer Hülle. Sie las Franz Schmidt und Jean Sibelius, Namen, die ihr nichts sagten. Geschweige denn das Orchester und der Dirigent.
    »Klassische Musik«, sagte sie zaghaft und hoffte, nicht ängstlich zu erscheinen, und er nickte. Valse triste und Notre Dame . »Wäre Jazz dir lieber«, fragte er. Sie lachte. »Keine Ahnung.«
    Siewar noch nie in einem Konzert gewesen, nie in der Oper, sie kannte ein paar Namen, Glenn Miller, Beethoven, Elly Ney, ihre Eltern waren ungebildet und nicht interessiert.
    »Nur im Theater war ich«, sagte sie. »Mit der Schulklasse, wie alle, wir haben uns die Klassiker angeschaut.« Er sagte: »Ich gehe gern in die Oper. Ich wollte Schauspieler werden.« Ihr fiel auf, daß er sich verhaspelte. »Schauspieler! Na so was.«
    Sie sah ihn an, als hätte er seine Träume bereits verwirklicht. Er stieg in ihrer Achtung. Wie wäre das, wenn er Schauspieler wäre? Würde er hier mit ihr sitzen? Sie wollte nicht darüber nachdenken. Sie hätte beinahe gesagt, das wundere sie nicht, er sah so gut aus. Kein Schauspieler hätte besser aussehen können als er. Statt dessen fragte sie ihn, was denn aus seinen Plänen geworden sei. Sie wußte aus seiner Krankengeschichte, daß er Student war.
    Er sagte: »Ich habe den Traum an den Nagel gehängt und studiere. Ich werde Lehrer, nicht Schauspieler.« Sie überlegte. »Wir brauchen gute Lehrer dringender als Schauspieler. Und ein guter Lehrer muß doch auch ein Schauspieler sein. Um so besser er ist, desto mehr lieben ihn seine Schüler.« Dann sagte sie, ganz unvermittelt: »Ich liebe Juliette Gréco.«
    Emil hatte von ihr gehört. Veronika besaß zwar keinen Plattenspieler, aber einen Radioapparat hatte sie. »Man nennt sie die Muse von St. Germain.« Veronika verstand kaum Französisch, sie verstand die Texte nicht, nur hin und wieder ein Wort, aber sie liebte die Stimme, sie knisterte wie dunkles Seidenpapier. Daß sie einen anderen Sender suchte oder das Radio abstellte, sobald klassische Musik ertönte, erwähnte sie nicht. Es gab nicht viele Sender, es gab auch nicht viel klassische Musik. Sie nahm sich vor,beim nächsten Mal zuzuhören. Sie würde sich hinsetzen, ganz gerade sitzen, den Kopf zwischen die Hände nehmen, die Augen schließen und die Musik auf sich einwirken lassen. Klassische Musik machte sie schon nach den ersten Tönen traurig, obwohl sie kein trübseliger Mensch war.
    Er sagte: »Ich habe einen Schulfreund, der heute in Paris lebt.«
    »Und du hast ihn nie besucht?«
    Er schüttelte den Kopf und ergriff ihre Hand. »Noch nicht.« In diesem Augenblick trat der Kellner an den Tisch und brachte den Wein. Emil ließ ihre Hand sofort los.

    Hätte sie sich nicht nach seinen Eltern erkundigt, wäre ihnen der Gesprächsstoff wahrscheinlich vorzeitig ausgegangen. Er erzählte ihr von Hans und Irene, von dem Geschäft mit den Toastern, Staubsaugern und Kühlschränken, das sein Vater mit Leidenschaft betrieb, und von dessen liebevoller Hinwendung zu all den anderen praktischen Küchenhelfern, die er vertrieb und verkaufte und die Emil ganz fremd waren. Emil machte eine wegwerfende Handbewegung. Schnell wandte er sich wieder seinem Essen zu. Sie hatte sie wohl gar nicht bemerkt. Er hatte den Eindruck, daß es Veronika nicht sonderlich interessierte. Es mochte daran liegen, daß er nicht die richtigen Worte fand, aus seinen Eltern liebenswürdige oder gar bemerkenswerte Menschen zu machen. Sie waren weder das eine noch das andere, und er wollte Veronika nichts vormachen. Die Wirklichkeit würde sie nur enttäuschen. Sie meinte, sie müßten stolz auf ihn sein, und er antwortete: »Wenn ich alles richtig mache, ja.« Veronika konnte sich nicht vorstellen, daß er etwas falsch

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