Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
dieses Geschäft eingelassen.
»Wann ist Papa gestorben? Warum weiß ich nicht, wann er gestorben ist?«
Keine Ahnung, worüber sie mehr staunte, ob darüber, daß ich sein genaues Todesdatum wissen wollte, oder darüber, daß ich ihn zum ersten Mal Papa nannte. Jedenfalls sagte sie: »Am 15. August 1954. Keine zwei Wochen nach deiner Taufe«, und zum ersten Mal seit dem Tag, da ich das Foto meines Vaters genauer betrachtet hatte, empfand ich so etwas wie Mitleid mit ihr und leise Abscheu vor mir selbst und meinen unausgesprochenen Vorwürfen und Unterstellungen, und ich verstummte, weil es im Augenblick nichts gab, womit ich sie treffen und verletzen wollte.
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IX
Während Veronika, Hedingers neue Sekretärin, die lackierten Fingernägel ihrer linken Hand auf der weichen Mohairwolle ihres hellgrünen Pulloverärmels polierte, als ob sie dadurch noch leuchtender werden könnten, wanderte ihr Blick über die Krankengeschichte des nächsten Patienten, die aufgeschlagen vor ihr lag. Es war kurz vor zwei. Die Tür zu Hedingers Praxis war geschlossen. Er hatte sich noch nicht bemerkbar gemacht, würde aber sicher nicht allzu lange auf sich warten lassen.
Ihre Augen blieben an einem Wort hängen, das sie aufmerken ließ. Der junge Mann, von dem die Rede war, ein Student, der nur ein Jahr älter war als sie, wurde als »latent perverse, infantile Persönlichkeit« bezeichnet. Hedingers nur mit Mühe zu entziffernde Hand hatte die drei ersten Worte unterstrichen.
Bevor Veronika Breger die Lektüre fortsetzen konnte, klopfte es, und dieser junge Mann betrat, ohne eine Antwort abzuwarten, das Vorzimmer. Seine Jugend fiel völlig aus dem Rahmen dessen, was sie hier seit Antritt ihrer Stelle vor anderthalb Monaten zu sehen bekommen hatte: ältere und betagte, fast ausnahmslos ungepflegte, unrasierte Männer, hinter denen sie das Fenster aufzumachen pflegte, wenn sie den Raum verlassen hatten. Die etwas jüngeren Patienten hatten sich den älteren längst angepaßt. Krank sah der junge Mann nicht aus, und was es mit den zweifelhaften Bezeichnungen auf sich haben mochte,leuchtete ihr nicht ein. Emil Ott sah völlig normal aus.
Nichts außer seiner Jugend und seinem guten Aussehen war auffällig an ihm. Er sah sie nur kurz an. Sein Blick war wach und verschleiert zugleich. Das war vielleicht seltsam, aber weder sonderlich abartig noch erschreckend. Er schüchterte sie ein bißchen ein. War das nicht normal? Sie stand hinter ihrem Schreibtisch auf und blieb stehen, was sonst nicht ihre Art war. Sie versuchte ihre Verunsicherung zu überspielen: »Der Herr Professor ist noch nicht da, es kann ein paar Minuten dauern. Er kommt vom Mittagessen.«
Der junge Mann sah sie wieder kurz an und sagte: »Ich weiß schon. Sind Sie neu?«
Sie nickte und setzte sich.
»Ganz neu. Nicht ganz neu. Seit einem Monat. Ich bin zur Probe hier. Wenn ich dem Herrn Professor nicht passe«, sie machte eine Kopfbewegung zu Hedingers Räumen, »muß ich mir in zwei Monaten etwas anderes suchen. Setzen Sie sich solange, bis er kommt. Es wird nicht lange dauern.«
»Er wird Sie behalten.«
Sie nickte und glaubte ihm. Nach einer Pause fragte sie: »Und Sie?«
Er schien sie nicht zu hören und antwortete nicht.
Während Emil sich setzte, gelang es ihr, die Krankengeschichte, die vor ihr lag, unbemerkt zu schließen. Der junge Mann sollte nicht sehen, daß sie darin gelesen, er sollte nicht einmal ahnen, daß sie je einen Blick hineingeworfen hatte.
Latent pervers und infantil. Sie beschloß, Hedingers Fähigkeiten, ins Innere der Menschen zu sehen, anzuzweifeln. Auch war es nicht ihre Aufgabe, sich in medizinischen Begriffen auszukennen. Warum sollten diese überzeugendersein als ihre eigene Wahrnehmung? Veronika sah über ihre Arbeit hinweg zu ihm hin, und wenn er aufblickte, lächelte sie ihm zu, und Emil lächelte jedes Mal zurück.
Dann erschien ein vom Mittagsschlaf gut erholter Hedinger in der Tür. Er ging aufgeräumt auf Emil zu, gab ihm aber nicht die Hand. Veronika hatte manchmal den Eindruck, ihr Chef ginge jeder wirklichen oder vermeintlichen Nähe zu seinen Patienten aus dem Weg. Es gehörte wohl zu seinem Handwerk, von dem sie nicht mehr verstand als von dem eines Tischlers. Wer zu ihm kam, war nicht ansteckend, aber in den wenigsten Fällen so fein wie dieser junge, stolze Mann.
Sie beschloß, Emils Krankengeschichte nicht mehr hervorzuholen. Ihre Neugier war groß, aber sie wollte nichts wissen, was sie nicht selber in
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