Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
machte.
Er hatte ihr zwar erzählt, wann er zum ersten Mal nach K.gekommen war, aber keine Gründe genannt. Nahm er an, daß sie es wußte und keine Fragen stellte, weil sie seine Krankengeschichte gelesen hatte? Davon auszugehen war einfacher, als etwas erklären zu wollen, was sie möglicherweise nicht verstehen würde. Er erzählte ihr nicht, weshalb er nunmehr zum dritten Mal bei Hedinger war. Er würde ihr gewisse Dinge immer verschweigen, und er konnte sich darauf verlassen, daß auch sonst niemand darüber sprach. Er hatte seinen Eltern Unannehmlichkeiten erspart, nun war es an ihnen, sie ihm zu ersparen.
»Du warst wirklich noch nie in Paris«, sagte sie, und er schüttelte den Kopf. »Aber dort hättest du doch deinen Freund, den du besuchen könntest.« »Ja, ich hole das nach«, sagte er. Und Veronika stellte sich vor, wie sie ihn begleitete.
Der Kellner hatte das Essen serviert, und eine Weile schwiegen sie, und Veronika fiel nicht ein, wodurch sie das Schweigen brechen könnte. Sie wäre gern geistreich gewesen, war aber überzeugt, daß Witz eine andere Herkunft erforderte oder sich erst mit dem Alter einstellte. Sie war weder schlagfertig noch komisch. Erst als Emil nach einigen Bissen das Besteck neben den Teller legte, faßte sie Mut, doch statt zu sprechen, tat sie etwas Unüberlegtes, sie legte ihre Hand auf seinen Arm und berührte dabei die Uhr, die halb von der Manschette bedeckt war. Seine Hand war fast so kühl wie das Glas, welches das Zifferblatt schützte. Sie fuhr langsam über das Lederband, und plötzlich spürte sie, wie er sein Knie gegen ihr Knie drückte und leise stöhnte. Vielleicht, dachte sie später, hatte sie sich das aber auch nur eingebildet.
Es war unwahrscheinlich, daß jemand außer ihr das hören konnte, denn inzwischen hatte sich das Lokal bis auf den letzten Platz gefüllt. Dies stellte sie mit Verwunderung fest, als sie von ihrem Teller aufblickte und über Emils Schulterhinwegsah. Was war es, was alle diese Leute hierherführte?
Wären die Suppe, der Teller, das Tischtuch und die Tischplatte durchsichtig gewesen, hätte sie seine Hand gesehen, die auf ihrem Knie lag.
Sie aßen weiter und lächelten sich hin und wieder zu. Manchmal machte einer von beide leise eine Bemerkung über den einen oder anderen Gast, und Veronika hatte das Gefühl, ihrer Vorstellung einer witzigen Person allmählich etwas näherzukommen. Emil war überzeugt, daß er sich verliebt hatte. Seine Ängste waren also unbegründet. Veronika war ihm vertrauter und näher als sonst ein Mensch. Von ihr ging eine Ruhe aus, die sich auf ihn übertrug. Ein weiblicher Friede.
[Menü]
X
André hatte meine Mutter zum ersten Mal bei meiner Taufe gesehen, zwei Wochen vor Emils Tod. Zu einer zweiten und letzten Begegnung kam es bei Emils Beerdigung. Zuvor waren sie sich nicht begegnet, obwohl Veronika Emil mehrmals dazu gedrängt hatte, gemeinsam mit ihr nach Paris zu fahren. Zur Hochzeit war er nicht eingeladen worden. Mein Vater hatte eine Begegnung zwischen Veronika und André wohl mit Absicht verhindert. Daß es schließlich doch noch dazu kam, war der Fürsorge meiner Mutter zu verdanken. Sie nämlich lud den ehemaligen Schulfreund hinter dem Rücken meines nichtsahnenden Vaters zu meiner Taufe ein, weil sie glaubte, Andrés Freundschaft bedeute ihm viel und könnte ihn aufmuntern. Als sie Emil erzählte, sie habe mit ihm telefoniert, war die Einladung nicht mehr rückgängig zu machen, und sie einigten sich sogar, André darum zu bitten, sich als mein Pate zur Verfügung zu stellen. Er nahm an. Meine Mutter hatte sich erstaunlich schnell von meiner Geburt erholt, und so konnte die Taufe schon drei Wochen danach, am 2. August 1954, stattfinden.
Seit seiner Eheschließung hatte Emil André nur zweimal in Paris besucht, zuletzt zu einem Zeitpunkt, da meine Mutter nicht reisen wollte. Dieser Zeitpunkt, Ende Dezember, war sicher nicht zufällig gewählt. Zwischen den Jahren waren Schulferien. Daß mein Vater nicht allein reiste, wußte niemand. Daß er in Begleitung war, erfuhr auchAndré erst kurz vor Emils Abreise. Das Porträt meines Vaters, das mich durch meine Kindheit und Jugend begleiten sollte, war früher entstanden, während seiner Verlobungszeit. Meine Mutter erhielt es nach Emils Tod, gerahmt und gut verpackt, per Post, Monate nach der Beerdigung, die im engsten Familienkreis stattgefunden hatte, zu dem André zwar nicht gehörte, aus dem man ihn aber, da er einmal angereist war, nicht
Weitere Kostenlose Bücher