Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
hatte ausschließen können, immerhin war er mein Patenonkel. Daß meine Mutter ihn bewußt von mir fernhielt, tat sie gewiß in bester Absicht, und dies, obwohl er niemals versucht hatte, das Tabu zu brechen, zu dem er oder das, was er verkörperte, geworden war, nachdem man ihr die Augen gewaltsam geöffnet hatte. Er und »sein unseliger Kreis«, all das, womit sie nichts zu tun haben wollte, sollten weit weg bleiben, besser ich bekam es nie zu Gesicht. Darüber sprach sie zum ersten Mal mit mir, als ich sie, nach meiner Rückkehr aus Paris, schließlich zur Rede stellte.
Laut André hatte sich mein Vater bei meiner Taufe in einer besorgniserregenden Verfassung befunden. Es war nicht zu übersehen, wie übel er dran war. Ob er sich über meine Geburt freute, konnte André nicht sagen. Er war unglücklich, und das hatte seine Gründe.
Meine ahnungslose Mutter mußte sich von der Anwesenheit seines besten Freundes Abwechslung und Aufmunterung versprochen haben. Vielleicht hatte sie sich gedacht, die Geburt eines ersten Kindes, zumal eines Sohnes, sei auch für einen Mann ein einschneidendes, verwirrendes Erlebnis, insbesondere für einen Mann mit seiner Krankengeschichte, über die sie sich nun wieder Gedanken machte. Daß Andrés Gegenwart nichts, möglicherweise sogar das Gegenteil dessen bewirkte, was sie beabsichtigte, konnte ihr nicht entgangen sein. Was Veronika, die ihn ja schließlich in Hedingers Klinik kennengelernt hatte, ahnteoder wußte, blieb André verborgen. Es war auch nach Emils Tod unmöglich, offen mit ihr über ihn zu sprechen, sie wollte mit ihm nicht mehr reden. Ein Telefongespräch endete in einem Streit, den beizulegen offenbar so aussichtslos war, daß keiner es je versuchte.
Veronika wußte um Emils labilen Zustand, aber wußte sie alles? Kannte oder ahnte sie den Grund seiner Niedergeschlagenheit? Frauen wüßten oft mehr, als sie zugeben wollten, besäßen aber auch die Fähigkeit, über das, was sie nicht wissen wollten, entschlossen und blind hinwegzusehen, hatte André gemeint. Ein Paradoxon, das mir so gefiel, daß ich es mir damals notierte. Heute weiß ich, daß es auf Männer genauso zutrifft wie auf Frauen.
Zweifellos hatte Emil unter der Vorstellung gelitten, Andrés Anwesenheit könnte sein Geheimnis enthüllen, vermutlich hatte er gefürchtet, das Auftreten seines Freundes würde genau das über ihn selbst aussagen, was er verzweifelt vor seiner Umgebung zu verbergen suchte und was erneut hervorgebrochen war, mit einer Macht, die die schwache Medizin, die er sich mit seiner Heirat selbst verordnet hatte, in wirkungsloses Nichts auflöste.
War einer, der solche Freunde hatte, nicht selbst verdächtig, zu sein wie diese? Die Vorstellung, Andrés Benehmen könnte auf ihn zurückfallen, muß ihn gepeinigt haben. Vielleicht hat er sich für diese Regung geschämt. Damit, daß André sich jeder Situation anzupassen wußte, hatte er offenbar nicht gerechnet. Er unterschätzte ihn. Tatsächlich benahm sich André tadellos, weder exaltiert noch sonst irgendwie auffällig. André war liebenswürdig und zurückhaltend, das hat mir meine Mutter bestätigt, obwohl ich nicht den Eindruck hatte, daß er ihr sympathisch gewesen sei und daß sie je bereut hatte, den Kontakt mit ihm abgebrochen zu haben.
Bevorich Rentsch die Uhr zur Reparatur brachte, machte ich mich auf den Weg zur Universitätsbibliothek. Ein Ort der Stille, der mir noch völlig fremd war und erst später, während meines Jurastudiums, vertraut werden sollte. Ohne die Hilfe einer Bibliothekarin, die wohl den blutigen Anfänger in mir erkannte, wäre mir der Augustband des Jahres 1954 vermutlich nicht so schnell ausgehändigt worden. Woher ich wußte, wo die regionalen und überregionalen Tageszeitungen der letzten Jahrzehnte archiviert wurden, weiß ich nicht mehr. Unter meinen Freunden war niemand, der sie nutzte. An die Universitätsbibliothek zu denken war wohl naheliegend.
Ich setzte mich mit dem Band, der die Monate Juli und August umfaßte – mein Vater hatte sich am 15. August 1954 umgebracht, also mußte die Todesanzeige wenig später erschienen sein –, in den großen, hellen Lesesaal, der vor nicht allzulanger Zeit eingeweiht worden war und in dem unaufhörlich Wasser über ein mehrfach geschichtetes futuristisches Gebilde aus dünnen Aluminiumplatten plätscherte, das zwischen Galerie und Erdgeschoß aufragte. Als ich zu studieren begann, hatte man das Wasser längst abgestellt, da es, wie man mir
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