Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
nichts vorzuwerfen. Ihrer Mutter war sie entkommen, doch die Freiheit war bitter. Das würdesich ändern. Sie schloß die Tür hinter sich ab, als sperrte sie ihre Mutter ein.
Auf halber Treppe blieb sie stehen, drehte um und ging wieder nach oben. Sie schloß die Tür erneut auf. Sie betrat die Wohnung, nahm die Vase vom Tisch und stellte sie unter der Spüle neben den schwenkbaren Mülleimer. Ohne Blumen war eine Vase nicht nur lächerlich, sondern geradezu provokativ. Das Wort gefiel ihr, obwohl sie nicht recht wußte, was es in diesem Zusammenhang verloren hatte. Ihre Schulbildung und Ausbildung waren nicht der Rede wert, aber immerhin hatte sie die Stelle bei Professor Hedinger erhalten. Drei Monate zur Probe. Sie würde, laut Emil, die Probezeit bestehen. Emil gab ihr genau jene Zuversicht, die sie brauchte. Andere Frauen brauchten sie mit Sicherheit auch.
Bevor sie die Wohnung zum zweiten Mal verließ, löschte sie alle Lichter, die Stehlampe und die Lampe über dem Tisch, deren Schalter sich neben der Wohnungstür befand. Den fand sie blind. Obwohl sie noch keinen Monat hier lebte, konnte sie sich in ihrer Wohnung, der ersten eigenen Bleibe, mit geschlossenen Augen bewegen. Nachts tat sie das oft, wenn sie sich mit erhobenen Armen einen Weg vom Bett zum Tisch und um den Tisch herum zur Badezimmertür bahnte. Die Gefahr hinzufallen war eher gering, dafür war kaum Platz. Für einen Nachttisch reichte es nicht, also gab es auch keine Nachttischlampe. Um den Schalter der Stehlampe, die dem Bett am nächsten war, zu erreichen, hätte sie sich weit aus dem Bett hinauslehnen müssen. Also bahnte sie sich ihren Weg durch die Finsternis. Lieber stolperte sie über etwas, als daß sie aus dem Bett fiel. Sie hätte es sogar geschafft, sich blind aufs Klo zu setzen, das tat sie nicht, aus Angst, sich im Halbschlaf zu beschmutzen.
Sie drehte den Schlüssel hinter sich zweimal im Schloß. Diesekleinen, nutzlosen Gedanken hatten sie abgelenkt und ihre Aufregung etwas gedämpft. Erwacht wie ein Tier, das sich umschaut, nachdem es sich geschüttelt hat, meldete sie sich jetzt mit Macht zurück. Veronika sah auf die kleine goldene Uhr an ihrem linken Handgelenk, ein Geschenk ihrer Eltern zur Konfirmation. Sie hatte nur noch fünfzehn Minuten Zeit. Sie mußte sich beeilen. Sie durfte nicht atemlos wirken. Sie durfte nicht laufen.
Sie hatten sich am Brunnen verabredet, auf dem sich ein Drache zu Füßen eines Helden wand, der ihn mit einer Lanze durchbohrte. Oder war es ein Löwe? Oder sonst ein Tier? Sie würde sich vergewissern. Am nächsten Morgen fiel ihr dann ein, daß sie das Tier nicht einmal angesehen hatte.
Emil küßte sie, er faßte sie an und küßte sie von neuem, immer wieder, so warm und voller Zuneigung, daß ihr Verlangen, erneut geküßt zu werden, ins Unermeßliche gesteigert wurde. Bevor sie irgendein Wort sagen konnte, hatte er sich über sie gebeugt und sie auf den Mund geküßt, so daß sie ihre Lippen öffnen mußte. Später dachte sie an den Drachen oder Löwen und an die Lanze, denn so war seine Zunge gewesen, eine Lanze, die sie durchdrang. Es kam alles so, wie sie es sich gewünscht hatte.
Sie hatten sich beim Brunnen getroffen und gingen dann in Richtung Tea-Room. Sie hielten sich bei der Hand, als würden sie sich schon lange kennen. Das hell erleuchtete Lokal war leer und wirkte ungastlich. Sie überquerten den Platz um Viertel nach sechs und traten ein. Die Bedienung drehte sich nicht einmal nach ihnen um, sondern wies sie, einen Lappen in der Hand, unfreundlich darauf hin, daß man gleich schließen würde. »Gleich ist bald«, erwiderte sie, als Emil sagte, es sei doch noch nicht sieben. »Wer behauptet, daß wir um sieben schließen? Weil es da steht? Wir schließen, wenn keiner mehr kommt.« Veronikaund Emil blickten sich ratlos um. Die Bedienung wartete darauf, daß sie das Lokal umgehend verließen, was sie auch taten.
Sie landeten schließlich im Gasthaus Schützengarten, ließen sich die Karte bringen und bestellten. Währenddessen lächelten sie sich hin und wieder zu, sprachen aber wenig. Emil bestellte eine kleine Flasche Wein, Veronika wollte nichts trinken, nur Wasser, trank dann aber doch ein halbes Gläschen. Sie fragte ihn, ob er viel gereist sei. Er schüttelte den Kopf. »Du?« Sie sagte: »Mit meinen Eltern in Montreux, am Bielersee, in Murten.« »Und nie im Ausland?« »Nie.« »Dann wird es Zeit.«
Er hob das Glas nur ein wenig über die Tischplatte, und nun blickten
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