Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
erzählte, die Blasen der Lesesaalbenutzer über Gebühr strapazierte, was ein ständiges Kommen und Gehen von und zur Toilette verursachte.
Ich legte das hochformatige Buch vor mich hin, schlug es auf, begann die bräunlich verfärbten Seiten langsam umzublättern und stellte fest, daß der 15. August ein Sonntag gewesen war. An diesem Tag war keine Zeitung erschienen. Ich blätterte weiter und las aufmerksam. Doch weder am 16., 17. noch 18. August fand sich ein Hinweis auf meinen Vater, kein Hinweis auf den Selbstmord eines Ungenannten, keine Todesanzeige. Er schien keine Spur hinterlassen zu haben.
Woraufmein Blick in der Ausgabe vom 19. August fiel, ließ mir, wie man in diesem Fall wohl treffend sagen darf, das Blut in den Adern gefrieren. Ein Ausdruck, den ich aus Büchern kannte, den anzuwenden ich später in meinem Leben zum Glück nie mehr Gelegenheit hatte. Was sich um mich herum auch tat, ich hörte und sah es in diesem Augenblick nicht. Hätte mich jemand angesprochen oder berührt, ich hätte es sicher überhört und nicht gespürt. Ob zufällig oder beabsichtigt, man hatte an diesem Tag, an dem insgesamt sechs Nachrufe erschienen waren, zwei Todesanzeigen nebeneinandergesetzt, die, wenngleich äußerlich sehr verschieden, allerdings etwas Entscheidendes gemeinsam hatten, etwas, was völlig ungewöhnlich war: Die beiden Verstorbenen – Emil Ott (mein Vater) und Sebastian Enz (ein Seminarist) – waren nicht nur am selben Tag, dem 15. August 1954, gestorben, sie waren auch beide keine fünfundzwanzig Jahre alt geworden.
Weder auf der einen noch auf der anderen der beiden ganz unterschiedlich ausgefallenen Anzeigen gab es einen Hinweis auf den anderen Toten. Und dennoch schienen sie miteinander verwachsen wie siamesische Zwillinge. Was für ein seltsamer Zufall, nein, ein Zufall konnte es nicht sein! Sebastian Enz war im Alter von einundzwanzig Jahren, mein Vater mit vierundzwanzig Jahren gestorben. Drei Jahre Unterschied, den geringfügigen Unterschied löschte die gemeinsame Jugend aus. Die Anzeigen lagen vor mir wie zwei Knaben auf einem Bett. Sie lagen auf dem Rücken und lachten. Sie lachten mich aus. Sie hatten gelächelt, jetzt lachten sie nur, und ich glaubte eine gewisse Häme, ein triumphierendes Frohlocken zu hören. Seite an Seite, die schwarzen Anzeigenränder berührten sich fast, lagen sie totenstill da. Ihre weißen Gesichter mit den geschlossenen Augen waren dem Betrachter zugewandt.Hatte sich der Setzer einen makabren Scherz erlaubt?
Sie wurden immer kleiner und blasser. Schließlich sah ich nur noch die Anzeigen. Spätestens als ich las, daß Sebastian Enz Seminarist gewesen war – so nannte man bei uns die Lehramtskandidaten, die noch das Lehrerseminar besuchten, aber zur Probe bereits unterrichten durften –, stand für mich fest, daß zwischen dem Tod der beiden jungen Männer ein Zusammenhang bestehen mußte. Ich starrte unverwandt auf das vergilbte, mehlige Papier, von dem ein säuerlicher Geruch ausging, und versuchte zu begreifen, was das bedeutete. Zwei junge Männer, von denen einer, mein Vater, Selbstmord begangen hatte. Wie war der andere gestorben? Wie paßten sie zusammen?
Es hatte genügt, sich einen alten Zeitungsband aus dem Magazinbestand der Universitätsbibliothek zu besorgen und aufzuschlagen, um die Quintessenz all dessen zu erhalten, was meine Mutter mir jahrelang verschwiegen hatte. Hätte ich die beiden Todesanzeigen früher gesehen, wäre mir früher ein Licht aufgegangen. Die beiden jungen Männer mußten sich gekannt haben. Mehr als das, sie standen sich näher als Emil der Frau und dem Kind, die er »in tiefer Trauer und ratlos doch in Gottes Glauben geborgen« – ohne Komma, ein unterdrückter Aufschrei – zurückließ. Einen Schritt weitergedacht hieß das: Sie hatten sich geliebt. Sie hatten sich geliebt und waren deshalb gestorben, gemeinsam gestorben. Konnten die beiden Anzeigen einen anderen Sinn ergeben als diesen?
In der Hoffnung, unter den vermischten Nachrichten auf etwas zu stoßen, was Informationen über die näheren Umstände des Todes zweier junger Männer lieferte, begann ich zurückzublättern, doch ich fand nichts. Konzentriert las ich jede Überschrift, alles Fettgedruckte, Kleinigkeiten am Rand, nichts, nicht die winzigste Notiz, nicht dergeringste Hinweis auf den Regional- noch auf den Inlandseiten. Es war, als liefe ich einer Person hinterher, die mir schneller entwischte, als ich denken konnte. Mein Vater auf der Flucht vor
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