Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
könne. Aber Sebastian sagte nichts dergleichen. Manchmal sprach er von ihrer Eifersucht und Einsamkeit und der erzwungenen bescheidenen Lebensweise, unter der sie offenbar litt. Er schien es auf die leichte Schulter zu nehmen. Sie sprachen nicht über Geld und Einkommen so wie sie nicht über die Schule oder Emils Ehe oder die Zukunft sprachen. Die Gegenwart war so stark, daß sie nichts neben sich duldete.
Veronika schien nicht aufzufallen, wie sehr er sich verändert hatte. Das machte das Leben leicht. Vielleicht machte sie das Naheliegende für seine gute Laune verantwortlich, den Urlaub und die Wärme. Worüber sollte sie sich also wundern?
Eines Tages bat ihn Sebastian, kaum hatte er sich aufs Bett gelegt, die Augen zu schließen und erst wieder zu öffnen, wenn er ihn dazu aufforderte. Ein paar Sekunden vergingen, dann spürte Emil etwas Feines, Kühles auf seiner Brust, das langsam im Gleichmaß mit Sebs warmen Atemzügen über seinen Oberkörper strich. Er spürte es auf seinem Bauchnabel, auf den Brustwarzen, auf seinem Geschlecht, es hüpfte auf und ab, er spürte es und spürte es wieder nicht, es senkte sich und hob sich, und es gab ein kaum hörbares, feines Geräusch von sich. In Sebastians Hand glitt es nach oben zu seinem Hals und fühlte sich an wie Nadelstiche. Als er die Augen öffnete, tanzten unzählige kleine Muscheln und Schneckenhäuser an einer dünnen Lederschnur über seinem Gesicht. »Für dich«, sagte Sebastian, »von mir.« Er erzählte ihm, er habe die Kette bei einem fliegenden Händler erworben und in der Nacht zuvor selbst getragen. Nichts Kostbares, doch wertvoller alsalles, womit man Emil bis zu diesem Tag beschenkt hatte.
Er trug sie um den Hals, als er zum Strand zurückging. Veronika erzählte er, ein Strandverkäufer habe sie ihm regelrecht aufgedrängt, er habe sich erfolglos gewehrt, und nun trage er sie eben. »Ist sie nicht hübsch?«
Als sein Blick auf Sebastian fiel, der ihm wie immer gefolgt war und sich – getrennt durch eine vielköpfige, laute Familie – in Sichtweite niederließ, fuhr er mit beiden Händen über die Kette und ließ die zierlichen Gehäuse langsam durch seine Finger gleiten.
»Hübsch«, sagte Veronika. »Nicht zu –?«
»Zu was«, fragte er.
»Ach, nichts«, erwiderte Veronika, »es ist ja Urlaub. Die südländischen Männer tragen schließlich auch Schmuck.«
Sie blickte sich um, entdeckte jedoch niemanden mit einer Kette, die dieser ähnlich gewesen wäre.
»Der Strandverkäufer«, sagte er lachend und sah zu Sebastian, »ist zugedeckt mit Schmuck. Von oben bis unten mit Schmuck bedeckt.«
»Zeig ihn mir, wenn er kommt«, sagte Veronika, von seiner Begeisterung nicht angesteckt, und drehte sich auf den Bauch. Emil legte sich neben sie, und sie bemerkte befriedigt, sie sei viel brauner als er.
»Kein Wunder«, sagte sie. »Du sitzt ja ständig im Zimmer.«
Eines Nachts stand er auf und flüsterte ihr ins Ohr, er könne nicht schlafen und gehe deshalb ein bißchen spazieren, an die frische Luft, zum Strand. Es war nicht verabredet, er folgte einer durch die Schlaflosigkeit ausgelösten Eingebung, als er in der Dunkelheit Hemd und Hose zusammensuchte und das Zimmer auf Zehenspitzen verließ, während Veronika, wie er annahm, bereits wieder schlief.Er war hellwach. Er schloß die Tür und klopfte leise bei Sebastian an, den er fragen wollte, ob er ihn an den Strand begleiten würde. Als Sebastian ihm öffnete, fielen sie sich in die Arme. Sie gingen nicht zum Strand, sondern legten sich auf Sebastians warmes Bett. Anders als sonst stand das Fenster weit offen, und während sie eng umschlungen dalagen, hörten sie das Meer, nur das Meer, auf dessen Wellen sie gemeinsam nicht so weit fortgetragen wurden wie auf den Wogen der eigenen Gedanken. Eine Stunde, anderthalb Stunden, es begann zu dämmern, Emil erwachte. Er zog Hemd und Hose an und betrachtete den schlafenden Kameraden seiner verschwiegenen Liebe. Unüberwindbar war die Mutlosigkeit, die ihn in diesem Augenblick überkam, als bräche etwas ein, was eben noch stabil gewesen war. Was mit ihnen beiden vorging, war nicht von Dauer, unmöglich, es festzuhalten, an einem anderen Ort als in seinen Träumen ließ es sich nicht fixieren. Wozu dann alles? Was zwischen ihnen war, würde flüchtig bleiben wie Luft, wie alles, woran man sich nicht halten kann. Gegen die Tränen, die ihm in die Augen schossen, konnte er nichts tun, sie waren tröstlich, verglichen mit dem Schmerz über die
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