Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
schwächer? Anders als bei meinem Vater, der in meinen Augen ein junger Mann war, gelang es mir nicht, mir eine Vorstellung von ihr als junger Frau zu machen.
Ein warmer Herbsttag neigte sich dem Ende zu, und wir setzten uns an den Gartentisch, der im feuchten Gras stand. Kein Tischtuch, keine Gläser, keine Flasche, kein Krug. Ein paar Jahre später ließ Roland an dieser Stelle ein Schwimmbecken installieren. Doch wenn ich heute an unseren Garten denke, was nicht selten geschieht, steht dort noch immer jener Tisch.
Ich wartete, sie würde reden. Mein Blick fiel auf die Stelle, wo vor Wochen ihr Nagellack einen Fleck im Gras hinterlassen hatte. Es war nichts mehr zu erkennen.
»SeineMutter«, sagte sie schließlich, »seine Mutter.«
Sie atmete tief durch.
Ich verstand nicht, wovon sie sprach. Ich wußte, daß meine Großmutter nur wenige Monate nach meinem Vater an Krebs gestorben war, Gebärmutterhalskrebs, wie ich später erfuhr. Ich wußte, daß ihr der Tod des einzigen Sohnes sehr nahgegangen war. Welcher Mutter wäre es nicht genauso ergangen? Was war mit seiner Mutter?
»Ich möchte jetzt eine Zigarette.«
Wann hatte meine Mutter zum letzten Mal geraucht? Ich hatte sie nie rauchen sehen. Das entsprach nicht meinem Bild von ihr. Dennoch zog ich das zerknitterte blaue Päckchen aus der Hosentasche, klopfte eine Gauloise an der Tischkante heraus und hielt sie ihr hin. Rauchen war zu Hause nicht gestattet. Ich wäre nie zuvor auf den Gedanken gekommen, mir vor ihren Augen eine Zigarette anzuzünden.
Sie steckte die Zigarette zwischen ihre Lippen und beugte sich vor, dabei sah sie mir in die Augen, und ich erwiderte ihren Blick. Ich riß ein Streichholz an und gab ihr Feuer. Sie wunderte sich nicht, daß ich rauchte. Sie wußte es längst. Sie hatte es in meinem Zimmer gerochen. Ihre Hand zitterte. Sie machte einen tiefen Zug, sie zitterte am ganzen Körper. Die Zigarette machte sie offenkundig nicht ruhiger.
Andrés Brief lag ungeöffnet zwischen uns auf dem Tisch. Ich hatte keine Post von ihm erwartet. Ich hatte keine Ahnung, was er von mir wollte.
Meine Mutter sprach hastig:
»Ich dachte nur an dich, an das ungeborene Kind in meinem Bauch, das war mir das Allerwichtigste, das ist ja kein Wunder, ich hatte keine Augen für etwas anderes, ich sah nicht, was geschah, ich konnte es unmöglich sehen, verstehst du? Ich ließ mich durch nichts beirren, andere wiederumhatten Zeit genug, Dinge zu sehen, die sie nichts angingen«, sagte sie. Ich verstand nicht, was sie meinte, aber ich unterbrach sie nicht, weil ich davon ausging, daß sie bald die richtigen Worte finden würde.
Als sie am Gare de l’Est aus dem Zug stiegen, atmete Emil durch und fühlte sich plötzlich befreit, und als er Sebastian betrachtete, stellte er fest, daß es ihm genauso erging. Draußen war es noch dunkel, doch die Luft war mild. Es nieselte, und dann hörte es auf.
Die sechs Kojen des Abteils waren mit unruhigen Schläfern besetzt gewesen, Männern und Frauen, deren einzige Gemeinsamkeit das Ziel war, das sie nun erreicht hatten. Niemand hatte sich ausgezogen, und dennoch hatte sich in dem engen, stickigen Abteil innerhalb kürzester Zeit ein abstoßendes Gemisch aus verschiedenen unerquicklichen Gerüchen herausgebildet. Doch das lag jetzt hinter ihnen. Sie setzten sich ins erstbeste Café auf der anderen Straßenseite und frühstückten ausgiebig. Im Gegensatz zu Emil war Sebastian an diesem 23. Dezember zum ersten Mal in Paris.
Nun, da die Nachtfahrt beendet war, konnten sie in der Masse untertauchen, als wären sie aus ihr hervorgegangen. Tropfen in einem See. Stromschnellen in einem Fluß. Außer ein paar Bettlern, die um diese Zeit noch schliefen, würde ihnen hier wohl kaum jemand Beachtung schenken. Zwei junge Männer, Arm in Arm, jeder einen Koffer mit dem Nötigsten in der Hand, fielen weniger auf als streunende Hunde.
Außer André, mit dem Emil vor ein paar Tagen telefoniert hatte und der ihm ein bescheidenes, billiges Hotel empfohlen hatte, dessen Zimmer zwar über eigene Badezimmer verfügten, sich aber als ziemlich heruntergekommen erwies, kannten sie niemanden. Was hätte ihnen besserzusagen können? Sie wollten niemanden sehen. Das Angebot, bei André zu wohnen, hatte er abgelehnt, und André hatte nicht darauf bestanden. Ob er allein sei? »Nein.« Ob er ihm seine Frau vorstellen werde, Veronika, die er nicht kannte, auf die er gespannt war? »Nein.« Ob er nicht mit seiner Frau reise? »Nein.« »Mit wem
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