Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
Unmöglichkeit ihres gemeinsamen Lebens, der so tief saß, daß er sich nicht wegspülen ließ. Die Frist war abgelaufen. Er wandte sich ab, um Sebastian durch sein haltloses Schluchzen nicht zu wecken. Nach einigen Minuten hatte er sich wieder so weit im Griff, daß er auch Veronika gegenübertreten konnte, ohne Fragen erwarten zu müssen, auf die er keine Antworten hatte. Wahrscheinlich aber schlief sie noch. Er beneidete sie beinahe um ihr uneingeschränktes Vertrauen, und fast hätte er den jungen Mann, der vor ihm lag, dafür gehaßt, daß er ihn an jenem Tag, als sie sich kennenlernten, all dessen beraubt hatte, was er glaubte gefunden zu haben, als er mit Veronika ein normales Leben zu leben begann,das für immer zerstört sein würde, wenn er dieses Zimmer nicht für immer verließ. Für immer. Und so machte er sich Gedanken darüber, mit welchen Argumenten er Veronika davon überzeugen könnte, den Urlaub noch an diesem Tag abzubrechen und nach Hause zu fahren oder irgendwohin, wo Sebastian, den er liebte, nicht war.
Als er Sebastians erschrockenes Gesicht sah, war es zu spät, den Gedanken an eine vorzeitige Abreise weiterzuverfolgen. Er würde bleiben und alles auf sich zukommen lassen. Er hatte keine andere Wahl.
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XII
Im November begannen sich die Anzeichen zu mehren, daß Veronika schwanger sein könnte. Als die Schwangerschaft im Dezember vom Arzt bestätigt wurde, weihten sie Emil und Veronikas Eltern ein. Die Freude war groß, und es gelang Emil, sich nicht anmerken zu lassen, wie wenig er sich mit der Rolle anfreunden konnte, die ihm nun zugeteilt war. Veronika suchte regelmäßig ihren Frauenarzt auf und verbrachte viel Zeit mit Emils Mutter. Nachdem die Ärzte zunächst behauptet hatten, der im Sommer vorgenommene Eingriff sei erfolgreich verlaufen, war Irene Otts Befinden wenige Monate später keineswegs zufriedenstellend. Ihre völlige Wiederherstellung war offenbar aussichtslos. Weitere Operationen wurden nicht erwogen. Aber das sagte man ihr nicht. Es war erfreulicher, über Veronikas und Emils Kind zu sprechen als über ihre Krankheit.
Emil schob den Gedanken an das Kind in Veronikas Bauch ebenso beiseite wie den an die Krankheit seiner Mutter. Beides fiel ihm nicht besonders schwer. Er hatte ja Sebastian. Er dachte nicht daran, daß seine Mutter sterben könnte.
Mit Sebastian über die bevorstehende, aber noch fern in der Zukunft liegende Geburt seines Kindes zu sprechen, zögerte er so lange hinaus, bis dieser ihm die Wahrheit aus der Nase zog. Es war ihm nicht entgangen, daß ihn etwas bedrückte. Emil fand es unangebracht, Sebastian mit seinenFamilienangelegenheiten zu behelligen, aber schließlich tat er es doch. Mit ein paar Worten gab er ihm zu verstehen, was geschehen war, und daß er dem keine Bedeutung beimesse. »Keine Bedeutung«, wiederholte Sebastian, »keine Bedeutung.«
Emils Zusammenleben mit Veronika war etwas, worüber sie nicht sprachen.
Veronika und Emil gingen nicht oft aus, und wenn doch, war die Wahrscheinlichkeit, Sebastian zu treffen, äußerst gering. Zufällige Begegnungen in der Stadt waren demnach so gut wie ausgeschlossen. Jedes Treffen mußte verabredet und geplant werden.
Kurz vor Beginn der Sommerferien hatte Sebastian die Schulbehörde darum ersucht, einem anderen Mentor zugeteilt zu werden. Als er aus Collioure zurückgekehrt war, fand er einen Brief vor, der ihm mitteilte, daß seinem Wunsch entsprochen würde. Zu seinem Bedauern, wie er sich eingestehen mußte, denn sein neuer Beistand unterrichtete, wie erwartet, in einem anderen Schulhaus. Um Emil sehen zu können, hätte er Berger inzwischen in Kauf genommen. Er hatte sich zur falschen Zeit entschieden.
Wo sonst als in der kleinen Wohnung, in der Sebastian mit seiner Mutter lebte, die als Hilfskraft in einer Gärtnerei arbeitete, hätten sie sich treffen sollen? Dort waren sie ungestört. Die Wohnung lag in einer Gegend, in der es weder Läden noch Restaurants gab, weit vom Arbeitsplatz der Mutter und noch weiter vom Lehrerseminar und den beiden Schulhäusern entfernt. Das nahe gelegene Straßenbahndepot war nicht dazu angetan, die Gegend attraktiver zu machen, besonders nachts nicht, wenn die letzten Bahnen mit kreischenden Rädern einfuhren und rangierten und die Bewohner der benachbarten Häuser aus dem Schlaf rissen. Doch nachts sahen sie sich nicht. Darüberkonnten sie nur reden. Sebastian erwähnte die heimkehrenden Straßenbahnen, als wären es alte Gefährten, hier war er
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